Ukraine: Bröckelt die Geschlossenheit?
Monatelang beeindruckte die ukrainische Gesellschaft durch scheinbar ungebrochene Geschlossenheit im Kampf gegen die russischen Invasoren. Nun aber kommen innenpolitische Spannungen zum Vorschein. Kyjiws Bürgermeister Klitschko kritisierte Präsident Selenskyj ungewöhnlich scharf. Frauen von Soldaten protestierten und forderten Fronturlaub für ihre Männer. Auch außerhalb der Ukraine werden wieder Zweifel an Selenskyjs Kurs geschürt.
Kaum vereinbare Prioritäten
Das angespannte Verhältnis von Selenskyj und seinem obersten General Saluschnyj beschäftigt Delfi:
„Selenskyj befürchtet, dass eine ukrainische Armee, die defensiver agiert und dann weniger anfällig für russische Angriffe ist, viel weniger Unterstützung aus dem Westen erhalten wird. ... Es ist also nicht überraschend, dass Selenskyj möchte, dass die ukrainische Armee gute Leistungen erbringt. ... Saluschnyj will das Leben seiner Soldaten nicht riskieren, weil die vorhandenen Fähigkeiten für eine Offensive nicht ausreichen. Der General und der Präsident haben also beide auf ihre Weise Recht. Das Problem ist, dass ihre Wahrheiten kaum miteinander vereinbar sind.“
Niemand will Selenskyj die Wahrheit sagen
La Stampa hält Verhandlungen jetzt für das einzig Richtige und lässt kein gutes Haar am ukrainischen Präsidenten:
„Selenskyj ist mit einem sturen, dogmatischen und akribischen Fanatismus dem Mythos des totalen Sieges verhaftet: Der Krieg kann nur mit Putins Kapitulation enden. Durch wundersame Gegenoffensiven und Lügen über die russische Agonie hat er uns überzeugt, dass es keine andere Lösung für den Krieg gibt. … Niemand hat den politischen Mut, ihm zu sagen, dass ein absoluter Sieg unmöglich ist und in einem Blutbad und einer Niederlage enden könnte. ... Selenskyj hat zudem begonnen, überall Verschwörungen zu sehen und Verrat zu vermuten. Gleichzeitig hat er entdeckt, dass das Kriegsrecht auch vorzüglich dazu dient, diejenigen auszuschalten, die Kritik üben.“
Unter Russlands Bedingungen geht es nicht
Putins Sprecher Dmitri Peskow hat nur vermeintlich Verhandlungsbereitschaft signalisiert, warnt der Ex-Abgeordnete und Blogger Boryslaw Beresa in Gordonua.com:
„Russland schlägt immer wieder Verhandlungen vor. Allerdings zu seinen Bedingungen, die für die Ukraine absolut inakzeptabel und auch nicht umsetzbar sind. Diese Bedingungen würden das Ende der Ukraine sowie ihre Umwandlung in eine Art Belarus unter Moskaus Kontrolle bedeuten. Deshalb sollten Meldungen [über mögliche Verhandlungen] als Informationsrauschen wahrgenommen werden. Sie bedeuten nichts. … Russland kann alles Mögliche versprechen und unterzeichnen, aber es wird seine Versprechen bei der ersten passenden Gelegenheit brechen.“
Eine beunruhigende Lage
Der Journalist Pawlo Kasarin äußert sich in Ukrajinska Prawda besorgt über das politische Klima:
„Manchmal hat man das Gefühl, als würde das Land in einem nicht offiziell erklärten Wahlkampf leben. Vom Parlament verabschiedete unpopuläre Beschlüsse warten immer noch auf die Unterschrift des Präsidenten. Vertreter der Regierungspartei werfen dem Oberbefehlshaber [Walerij Saluschnyj] öffentlich vor, politische Ambitionen zu haben. Die Opposition kritisiert die Regierung dafür, dass ihren Abgeordneten diplomatische Reisen verweigert werden. Das alles lässt darauf schließen, dass die ukrainischen Politiker weiterhin in Erwartung von Wahlen leben – obwohl der Präsident versprach, dass sie während des Krieges nicht abgehalten würden. Und das ist eine sehr beunruhigende Situation.“
Alte Fehden werden fortgesetzt
Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko hat Selenskyj mit scharfen Worten kritisiert. La Stampa überrascht das nicht:
„Die Entourage des 'Dieners des Volkes' [Selenskyj] hat den Bürgermeister davor gewarnt, sich bei ausländischen Zeitungen zu beschweren, und ihn aufgefordert, einfach seinen Job zu machen. Die beiden können sich nicht leiden, seit Selenskyj vor vier Jahren sein Amt antrat und bei den Wahlen seinen Vorgänger Petro Poroschenko, den jetzigen Unterstützer Klitschkos, besiegte. ... Mit dem Krieg schuf die Regierung eine Militärverwaltung der Gemeinden (Rda) parallel zur normalen Verwaltung und unterstellte sie ihrer Kontrolle. Von da an begann ein Spiel mit Schuldzuweisungen und Verdächtigungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie.“
Poroschenko wohl keine wirkliche Bedrohung
Nachdem ukrainische Grenzbeamte den früheren ukrainischen Präsidenten Poroschenko an der Ausreise gehindert haben, rätselt 444.hu über die Hintergründe:
„Warum Petro Poroschenko Viktor Orbán treffen wollte, wissen wir bislang nicht ... Es ist auch fraglich, ob dieses neue Kapitel im Krieg zwischen Selenskyj und Poroschenko eine tatsächliche Bedeutung für die Zukunft der Ukraine hat. Aber es scheint wahrscheinlich zu sein, dass die Verhinderung der Reise nicht unabhängig von den Ambitionen des ersten Mannes im Staat und dessen Gefühl der wachsenden persönlichen Bedrohung ist. ... Doch was auch immer Poroschenko versucht, er ist nicht die Person, von der die vom Auf und Ab des Krieges scheinbar ermüdeten Ukrainer Erlösung erhoffen würden.“
Selenskyjs Gegner sind wieder da
Radio-Kommersant-FM-Kommentator Maxim Jussin zitiert, was ihm ein alter Freund aus Kyjiw zur Lage in der Ukraine berichtet:
„'Politik kehrt allmählich in unser Leben zurück', sagte er. 'Nach Kriegsbeginn gab es praktisch keine mehr. Alle scharten sich um den Präsidenten. Sie hatten Angst, ihn zu kritisieren, und wollten das auch nicht: Er wurde als Symbol der kämpfenden Nation wahrgenommen. Jetzt gibt es keinen solchen Zusammenhalt mehr. Die Opposition ist mutiger geworden, die Menschen beginnen, Zweifel und Skepsis laut zu äußern. Und im Präsidententeam selbst gibt es Risse.' ... Die politische Opposition, die bisher ruhig und loyal war, ist wieder lebendig. Das betrifft vor allem die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko.“
Jetzt nicht im Stich lassen
In dieser innenpolitisch schwierigen Lage braucht die Ukraine die Unterstützung von außen besonders, meint The Times:
„In Kyjiw brodelt es unter der Oberfläche und potenzielle Rivalen von Präsident Selenskyj tauchen in aller Stille auf. Generäle, die zugeben, dass das Land in einer Pattsituation gefangen ist, werden als Defätisten gebrandmarkt. Die Ukrainer sind russischen Streitkräften bereits an vielen Fronten unterlegen, die Bombardierung der Zivilbevölkerung geht unvermindert weiter. Selbst wenn die Hilfe wieder in Gang kommt, steht der Ukraine ein langer, harter Winter bevor. Das ist nicht der Zeitpunkt für den Westen, kollektiv die Nerven zu verlieren.“