Ukraine-Krieg: Was sind die Erkenntnisse aus 2023?
Anders als 2022 gab es im Ukraine-Krieg 2023 kaum große Verschiebungen der Frontlinie, das militärische Geschehen scheint festgefahren. In den Kommentarspalten wird analysiert, welche Schlüsse aus den Entwicklungen des Jahres gezogen werden sollten und was 2024 bevorstehen könnte.
Charkiw könnte zum neuen Ziel werden
Politologe Nikolai Mitrochin hält es auf Facebook für möglich, dass Russland eine neue Front eröffnen wird - nördlich von Charkiw:
„Der Anlass dafür ist der Beschuss von Belgorod. In Wirklichkeit ist es die Erkenntnis, dass die Ukraine kaum genügend Ressourcen hat, um die bestehende Front zu halten, und diese für eine weitere Front nicht reichen - während Russland erfolgreich eine kommerzielle Mobilmachung durchgeführt hat. Nachdem es auf vorbereitete ukrainische Abwehrstellungen gestoßen und in die Sackgasse von Kupjansk (im Nordosten der Region Charkiw) geraten ist, könnte es also sein Glück versuchen, von Norden her an die zweitwichtigste Stadt des Landes, Charkiw, heranzukommen.“
Putin kommt zurecht, der Westen nicht
Der Schriftsteller und Politikberater Jurģis Liepnieks kommentiert bei LA.LV die Lage:
„Natürlich kann und wird Putin keine weiteren Fronten eröffnen, bis die Frage der Ukraine gelöst ist. Denn die Situation ist für Putin sehr zufriedenstellend. ... Er hat das Gefühl, dass dieser Krieg der Ausflüchte und Verzögerung zu seinem Vorteil ist und dass er ihn ertragen wird. Der Westen kann es nicht ertragen. ... Der Westen ist derjenige, der keine Waffen mehr liefern kann, der Westen ist derjenige, der wegen aller möglichen Probleme keine finanzielle Hilfe leisten kann. Der Westen ist derjenige, der zu Hause Probleme hat. Die Ukraine ist diejenige, bei der Probleme entstehen. Putin kommt mit seinen Problemen zurecht – die Sanktionen funktionieren nicht, zumindest funktionieren sie nicht so, wie wir dachten.“
Die Anspannung steigt
Eine geplantes Mobilmachungsgesetz sorgt für Frustration in der Ukraine, analysiert Jutarnji list:
„Der Vorschlag des Mobilmachungsgesetzes wurde zum Auslöser dafür, der Unzufriedenheit der gesamten Gesellschaft mit der derzeitigen Situation in der Ukraine Luft zu machen, die sich in den letzten Monaten angestaut hat. Auf einmal kamen alle Frustrationen zusammen: von der Regierung geschürte große Erwartungen gegenüber der erfolglosen Offensive der ukrainischen Armee, Bitterkeit wegen der Korruption und allgemeine Kriegsmüdigkeit. ... Die Anspannung in der Gesellschaft ist eskaliert und nun unterstützt niemand das Gesetz, selbst die Regierungspartei Diener des Volkes nicht, obwohl sie diejenigen waren, die es vorbereitet haben.“
Zusammenhalt in Europa ist gelungen
Die EU hat sich in dieser Krise nicht auseinanderdividieren lassen, meint der ehemalige Wirtschaftsminister und Ökonom István Csillag in Népszava:
„In den fast zwei Jahren seit der russischen Aggression haben sich die europäischen Regierungen erstaunlich gut geschlagen, trotz der wachsenden internen Konflikte und trotz der Spannungen erzeugenden Demagogie der immer stärker werdenden populistischen Bewegungen. Den prorussischen und putinfreundlichen Orbán hat man praktisch ausgegrenzt, ohne das System der Zusammenarbeit in der EU zu sprengen.“
Gewinner sind die Staaten, Verlierer die Völker
Birgün verweist auf die Einschätzung des International Institute for Middle East and Balkan Studies (IFIMES):
„Interessanterweise legt die umfassende Analyse nahe, dass in der Ukraine derzeit drei Parteien die Gewinner sind. ... Erstens die Ukraine selbst, die bewiesen hat, dass sie in der Lage ist, eine Nation aufzubauen, auch wenn sie Gebiete verloren hat. Zweitens Russland, das in seinem Krieg gegen fast die gesamte Welt und die Nato nicht besiegt wurde und im Gegenteil sein Image aus der Sowjetära wiederbelebt hat. Und drittens die USA, die aus dieser Konfrontation enorme wirtschaftliche, politische und militärische Vorteile ziehen. ... Die Nettoverlierer sind die Völker mit ihren Toten und einer dunklen Zukunft.“
Russland will Ukraine zermürben
Der Krieg ist zum Abnutzungskampf geworden, analysiert Jutarnji list:
„Egal, ob Putin sagt, 'Russland übernimmt die Initiative': Der Krieg ist offensichtlich in einer Patt-Situation. ... Weder Russland noch die Ukraine haben laut BBC die Kraft für eine entscheidende Operation, ohne dafür unvernünftig große Ressourcen zu verbrauchen: Ausrüstung, Munition und vor allem Soldaten. Wegen dieser Lage hat Moskau, wie auch einige russische Militäranalysten schreiben, sich für eine 'Zermürbungstaktik' gegenüber der Ukraine entschieden, in der Ansicht, Russland habe mehr Ressourcen - von menschlichen bis wirtschaftlichen, militärischen und politischen - um dadurch die Ukraine zum Einknicken zu bringen. “
Krieg aufs gegnerische Territorium verlegen
Telegraf hält weitere Angriffe aufs russische Grenzgebiet für unvermeidlich:
„Ein Krieg kann nicht gewonnen werden, wenn er ausschließlich auf eigenem Territorium geführt wird. ... Belgorod spielt, wie auch andere russische Grenzstädte, eine wichtige Rolle als logistischer Knotenpunkt für die russische Aggression in der Ukraine. Deshalb werden die Angriffe auf sie fortgesetzt. In Zukunft sollte diese Stadt wie auch das gesamte russische Grenzgebiet entmilitarisiert und Teil eines Sicherheitsgürtels für die Ukraine werden, damit Moskau nicht einmal daran denkt, seine Aggression zu wiederholen.“
Kyjiw muss Kriegsziele zurückschrauben
Für die Ukraine geht ein bitteres Jahr zu Ende, fasst Politiken zusammen:
„Russland hat mehr als dreimal so viele Einwohner und ist zu einer Kriegswirtschaft übergegangen. Der Westen tut sich schwer, die notwendigen Waffen bereitzustellen, und die meisten rechnen nun mit einer russischen Offensive im Frühjahr. ... Zudem steht die US-Wahl bevor und mit ihr die Gefahr, dass Trump gewinnt und die Unterstützung stoppt. All das bedeutet nicht, dass der Krieg verloren ist. Es bedeutet aber, dass ein militärischer Sieg der Ukraine, bei dem sie ihr Territorium zurückerobert, schwer vorstellbar ist. Und es zwingt sowohl die Ukraine als auch den Westen, darüber nachzudenken, wie ein ukrainischer Sieg aussehen könnte.“
Zur See läuft es hervorragend
Im Schwarzen Meer erzielte die Ukraine bedeutende Erfolge, betont gazeta.ua:
„Die ukrainischen Angriffe auf Sewastopol und Kertsch haben die russische Flotte dazu gezwungen, mit der Verlegung ihres Stützpunkts nach Noworossijsk zu beginnen. Der westliche Teil des Schwarzen Meeres ist faktisch frei von russischer Präsenz. Schon seit Monaten werden kaum noch Kalibr-Marschflugkörper von feindlichen Raketenschiffen auf die Ukraine abgefeuert, und der Getreidekorridor funktioniert ohne Billigung des Kremls. ... Auch in der Luft ist eine Trendwende festzustellen. … Es gibt also zwar keinen Grund für Triumphgeschrei, aber auch keinen zur Verzweiflung.“
Selenskyjs Stil hat sich abgenutzt
Libertatea interpretiert, warum die Vertrauenswerte des Präsidenten Umfragen zufolge von 88 auf 63 Prozent gesunken sind:
„Die zunehmende Kriegsmüdigkeit und die anhaltenden Feindseligkeiten verändern, wie die Ukrainer die politische Realität wahrnehmen. Nicht, dass sie um jeden Preis einen Frieden mit Russland wollen, wie uns die russische Propaganda erzählt. Doch sie fragen sich, ob Selenskyjs Entscheidungen richtig sind und den Sieg bringen werden. Selenskyj versucht weiterhin, die Öffentlichkeit mit seinen Reden zu gewinnen, aber er ist dabei nicht mehr so effektiv. Seine originelle Herangehensweise hat es in die Lehrbücher der politischen Kommunikation geschafft, aber es sieht so aus, als müsste er sich im Wahljahr 2024 neu erfinden.“
Ein Volk wird dem Krieg unterworfen
Kirill Martynow, Chefredakteur von Nowaja Gaseta Ewropa, beobachtet in einem von Echo übernommenen Telegram-Post fatale soziale Veränderungen in Russland:
„Anfangs wurde der Krieg als in Zeit und Raum begrenztes großes Übel angesehen. ... Die Zustände zum Ende des zweiten Kriegsjahres zeigen, dass dies eine Illusion war. Die russische Gesellschaft hat sich für immer verändert. Sie wird durch das Verbot, die Realität zu erörtern und den Krieg beim Namen zu nennen, auf brutalste faschistische Weise zur Unterwerfung unter den Krieg gezwungen. Hauptdynamik ist die Herausbildung einer 'Wächter'-Klasse nach dem Muster der 'islamischen Revolutionswächter' [im Iran]: 10 bis 15 Millionen Menschen, die für den Krieg arbeiten und die Diktatur schützen.“