Wahlen in Taiwan: Steigt das Risiko einer Eskalation?
Lai Ching-te hat die Präsidentschaftswahlen in Taiwan gewonnen. Es wird erwartet, dass er den chinakritischen Kurs seiner Vorgängerin Tsai Ing-wen fortsetzt. Seine Partei DPP verfehlte allerdings die absolute Mehrheit im Parlament und muss sich mit den Oppositionsparteien arrangieren, die einen versöhnlicheren Kurs gegenüber Peking einfordern. Europas Presse schaut auf die Folgen.
Invasion durchaus möglich
Die Angst vor einem chinesischen Angriff wächst, beobachtet Jutarnji list:
„Peking ist kein Freund von Lais Politik, vor allem da dieser sich als 'Arbeiter für die Unabhängigkeit Taiwans' bezeichnet. Dies ist der Hauptgrund, weshalb Spannungen köcheln und man Angst vor einem offenen Krieg beziehungsweise einer chinesischen Invasion der Insel hat. ... Aus der westlichen Perspektive betrachtet ist Lais Wahlsieg eine Fortführung der Politik, die seine Parteikollegin Tsai Ing-wen acht Jahre lang führte. Von Lai wird sogar ein noch härterer Kurs gegen das kommunistische China erwartet, was bei vielen Analytikern für Angst vor einer noch schnelleren und stärkeren Eskalation der Anspannungen sorgt.“
Die Insel ist fast näher als Ukraine oder Gaza
Die Bedeutung des Taiwan-Konflikts darf der Westen nicht unterschätzen, mahnt Les Echos:
„Nach der Ukraine 2022 und Israel 2023 hat er kein Interesse daran, sich in diesem Jahr in einen neuen Konflikt einzumischen. Ihm bleiben weder Waffen noch Geld und Taipeh scheint weit weg. Trotzdem ist Taiwan von den drei Konflikten derjenige, der uns am meisten treffen würde. Denn Taiwan produziert mehr als 60 Prozent der Halbleiter weltweit und 90 Prozent der leistungsstärksten, wie sie in unseren Smartphones verbaut werden. Es hat 40 Jahre gebraucht, um dieses System aufzubauen, das mittelfristig kein anderes Land nachbilden kann. Eine chinesische Invasion oder eine Blockade wären somit eine Katastrophe für unsere Unternehmen, unsere Fabriken und unseren Alltag.“
Es könnte erstmal Ruhe einkehren
Die ersten Reaktionen aus Peking machen Mut, dass vorerst keine Eskalation bevorsteht, meint The Irish Times:
„Die unmittelbare Reaktion auf das Ergebnis fiel zurückhaltend aus und lässt ermutigte Beobachter in Taipeh hoffen, dass sich die Beziehungen zum chinesischen Festland nicht verschlechtern werden. Wenn die chinesische Führung ihrer eigenen Interpretation des Wahlergebnisses vom Samstag Glauben schenkt, dann sollte sie die 60 Prozent der Wähler pflegen, die für Kandidaten gestimmt haben, die offen für einen engeren Dialog mit Peking sind. Der beste Weg dafür wird sein, die demokratische Wahl des taiwanesischen Volkes zu respektieren.“
Ein Land, in dem Demokratie funktioniert
Público sieht die Wahlen als Hoffnungsschimmer:
„In Ländern wie Taiwan oder den USA, in denen die Demokratie hinsichtlich der Wahlmechanismen noch nicht gefährdet ist, ist das Ergebnis entscheidend für den Fortbestand einer freien Gesellschaft. ...Taiwan wird eine Figur im Spiel zwischen den Großmächten sein, aber es ist auch ein Land, in dem die Menschen noch über ihr Schicksal entscheiden können. In diesem schwierigen Jahr 2024 gibt das taiwanesische Votum denjenigen Hoffnung, die glauben, dass die Demokratie einen nicht verhandelbaren Wert darstellt. Selbst wenn dies mächtigen Nachbarn wie China oder Russland übel aufstößt.“
China wird zunehmend zum roten Tuch
Nach der Wahl dürften Pekings Vorstöße zu einer "friedlichen Wiedervereinigung" auf taube Ohren stoßen, meint China-Korrespondent Fabian Kretschmer in der Stuttgarter Zeitung:
„Das war nicht immer so. Pekings Versprechen an Taiwan – 'ein Land, zwei Systeme' – gewann vor gar nicht allzu langer Zeit durchaus an Beliebtheit. Denn China entwickelte sich zur aufstrebenden Weltmacht und machte mit ihrem riesigen Markt Taiwans Volkswirtschaft abhängig. Doch seit der Autokrat Xi Jinping vor über zehn Jahren an die Macht kam, hat sich der Glanz der Volksrepublik in Abschreckung gewandelt. Ein Schlüsselmoment stellte der Sommer 2020 dar, als die Demokratiebewegung in Hongkong niedergeschlagen wurde. Damit wurde China für die meisten Taiwaner zum roten Tuch.“