Frankreich-Wahl: Welche Rolle spielt Antisemitismus?
Die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten in Frankreich ist seit der Eskalation in Nahost deutlich gestiegen. Nun sorgten die Vergewaltigung und antisemitische Beschimpfung einer Zwölfjährigen für Entsetzen. Die Positionierung zur Judenfeindlichkeit wird vor diesem Hintergrund zum Wahlkampfthema. Mehrere Stimmen bezichtigen Israel-kritische Vertreter des neuen Linksbündnisses NFP des Antisemitismus. Europas Presse ist besorgt.
Auf die Falschen gezielt
Dass das Macron-Lager LFI und NFP Antisemitismus vorwirft, verurteilen jüdische Bürger in Libération als verwerfliche Instrumentalisierung:
„Zunächst weil es die extreme Rechte weißwäscht, deren Geschichte und Wurzeln untrennbar mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit verbunden sind. Zweitens, weil es die Bildung eines Damms verhindert, der den RN aufhalten könnte. Drittens, weil es darauf abzielt, das Bündnis der Linken und Grünen aufzubrechen, wovon nur die extreme Rechte profitieren würde - ein Versuch also, die einzige glaubwürdige Alternative zu dieser großen Gefahr für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Demokratie zu zerstören. ... Und schließlich, weil sie den Kampf gegen das Wiederaufkommen des Antisemitismus in Frankreich und Europa sabotiert, der untrennbar mit dem Kampf gegen andere Formen des Rassismus verbunden ist.“
Nicht die Fremdenfeindlichkeit des RN übersehen
In Le Monde warnen die Historiker Marie-Anne Matard-Bonucci und Laurent Joly vor einer Verblendung:
„Indem er sich als 'selbsternannter Verteidiger der Juden Frankreichs‘ darstellt, will der RN nicht nur die letzte Hürde zur Entdiabolisierung überwinden. In einer Haltung, die dem offen gezeigten Antizionismus einiger Verantwortlicher der [Linkspartei] LFI entgegengesetzt ist, versucht er, eine Wählerschaft zu verführen, die von dem Antisemitismus verängstigt ist, dessen Wiederaufleben mehr als beunruhigend ist und der vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts gedeiht. Doch dieser Versuchung nachzugeben ist eine Form der Verblendung, die darin besteht, die enge Verbindung zwischen Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus zu übersehen.“
Nährboden für neuen Judenhass
Kathimerini schreibt:
„Da Frankreich den Antisemitismus im Zweiten Weltkrieg nicht wie Deutschland erlebt hat, hat es ihn stillschweigend in den demokratischen Anstand integriert. Ausgelöscht hat es ihn nicht. Mit Millionen von Muslimen auf seinem Territorium und Schuldgefühlen wegen seiner kolonialen Vergangenheit läuft Frankreich, obwohl es eine Bastion des Westens ist, Gefahr, das zu verkörpern, was Pierre-André Taguieff den 'neuen Judenhass' nennt. Die Linke, die die Arbeiterklasse an Le Pen verloren hat, kämpft darum, das soziale Vakuum mit Einwanderern und Muslimen zu füllen. Daher auch der Antisemitismus. “
Der Wirtschaft sind Werte egal
Expresso hält es für gefährlich und rückgratlos, wenn führende Vertreter der französischen Wirtschaft mit einem Sieg von Le Pen kokettieren:
„Für diese Unternehmer zählt nur das unternehmerfreundliche Mantra. Der Rest spielt keine Rolle. Auch wenn Le Pens Reden populistischen Trends und Impulsen folgen und wir nie wirklich wissen, was uns am nächsten Tag erwartet. Es geht nach Kissingers Maxime, angepasst an die Wirtschaft: Sie ist eine Faschistin, aber sie ist unsere Faschistin. Die Partei von Marine Le Pen ist nicht wirklich faschistisch? Kann sein, aber das wäre auch egal. Es geht nur ums Geschäft.“
Streit innerhalb der Linken bitte vertagen
El País sieht LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon in der Verantwortung:
„Wenn alles nur noch Lärm und Zorn ist, zerfällt die Gesellschaft in zwei Pole und das Schicksal eines ganzen Landes wird zwischen Kopf oder Zahl entschieden. ... Das Beste, was der Neuen Volksfront passieren kann, wäre, dass Mélenchon zwei Schritte zurücktritt, damit seine Partei zum Beispiel mit den Sozialdemokraten von Raphaël Glucksmann gemeinsame Sache machen kann, einer der derzeit interessantesten Figuren. Bei den Demonstrationen gegen Rechts am Wochenende kam ein gesunder Menschenverstand zum Vorschein, den viele von uns vermisst haben. Auf einem Transparent war zu lesen: 'Streiten können wir später.' Richtig. Jetzt gibt es andere Prioritäten.“