Estlands Wirtschaft kriselt: Litauen als Vorbild?
Lange Zeit war Estland das wirtschaftsstärkste Land des Baltikums. Doch nun ist es seit 2022 in einer Rezession. Litauen dagegen erlebt derzeit ein Wachstum von 3,5 Prozent. Zum Teil ist das wohl darauf zurückzuführen, dass die Zinserhöhungen Privatpersonen und Unternehmen in Estland stärker belasten, weil sie mehr Kredite haben. Kommentatoren sehen aber auch noch andere Gründe.
Falle des mittleren Einkommens
In LRT sieht Sozialwissenschaftler Marius Kalanta Estland in der
„'Falle des mittleren Einkommens', einer Situation, in der ein Land nach schnellem Wirtschaftswachstum auf mittlerem Einkommensniveau stagniert, weil es den Übergang zu einer innovationsgetriebenen, hochproduktiven Wirtschaft nicht schnell genug schafft. Zahlreiche Studien zeigen, dass innovativere Länder widerstandsfähiger gegenüber verschiedenen Erschütterungen sind. Sie passen sich besser an, erholen sich leichter und strukturieren sich schneller um. Warum ist das also in Estland nicht geschehen? ... Möglicherweise ist Estland noch kein vollständig entwickeltes Land geworden, sondern bekommt die 'Falle des mittleren Einkommens' zu spüren. Es ist bereits sehr teuer geworden, aber Innovationen sind noch nicht die treibende Kraft des Wirtschaftswachstums.“
Politische Untätigkeit verzerrt den Wettbewerb
Die Preissteigerungen liegen auch daran, dass mehrere in der EU vorgeschriebene Wettbewerbsregeln in Estland noch nicht verabschiedet wurden, ärgert sich Eesti Päevaleht:
„Die jüngsten Inflationszahlen für September bestätigen, dass die Preise für Telekommunikationsdienste im Laufe des Jahres um ganze 7,7 Prozent gestiegen sind. ... Gleichzeitig hat allein [Marktführer] Telia für das vergangene Jahr 80,9 Millionen Euro an Dividenden ausgeschüttet. ... Eine fortgesetzte Untätigkeit aufgrund mangelnden politischen Willens liegt in niemandes Interesse: Die von der EU-Kommission gegen Estland verhängten Geldbußen werden immer höher, gesetzestreue Unternehmen leiden unter der regelwidrigen Konkurrenz und der Geldbeutel der Verbraucher wird durch Preiserhöhungen immer stärker belastet.“
Investitionen und Fördermittel richtig lenken
Was sich Estland bei Litauen abschauen könnte, nennt Ökonom Raul Eamets in Postimees:
„Litauen unterstützt ausländische Investitionen, und es wurde ein grüner Korridor für große Investitionen geschaffen, die als national wichtig eingestuft werden. Die Investition muss mindestens 20 Millionen Euro betragen und 150 Arbeitsplätze schaffen. ... Genehmigungen werden dann beschleunigt. Und Investoren kommen in den Genuss einer 20-jährigen Befreiung von der Einkommensteuer. ... Litauen hat bereits 2017 die Regionen im geografischen Gliederungsrahmen NUTS2 der EU eingeführt. NUTS2 unterteilt Länder in verschiedene Regionen und ist die Grundlage für die Zuweisung von EU-Fördermitteln für die Regionalpolitik.“
Sparen, senken, privatisieren
Postimees empfiehlt der Regierung radikale Wirtschaftsmaßnahmen, um aus der Rezession rauszukommen:
„Die estnische Industrie und die Exporte können nicht so viel Geld einbringen, wie der estnische Staat ausgeben kann. Daher ist es wichtig zu ermitteln, welche Ausgaben der Staat jetzt stoppen oder verschieben könnte. ... Postimees empfiehlt der Regierung, sich anzuschauen, was die Litauer getan haben oder was die Argentinier tun. Und die klassische Weisheit der Konjunkturbelebung zu Hilfe zu nehmen: Steuern und Staatsausgaben senken und privatisieren. Machen Sie all das, was wir in den frühen 1990er Jahren getan haben und was uns Erfolg gebracht hat. Die Regeln der Wirtschaft haben sich in der Zwischenzeit nicht geändert.“
Langsamer wachsen ist offenbar besser
In Eesti Päevaleht analysiert Wirtschaftsexperte Heido Vitsur die verschiedenen Ansätze der befreundeten Länder:
„Die Tatsache, dass Litauen in der aktuellen Krise besser abschneidet als wir, sollte keine Überraschung sein. Schließlich ist Litauen auch mit weniger Schrammen aus der Finanzkrise gekommen und hat einen Wachstumskurs eingeschlagen, der das Land auf eine ziemlich gerade Aufwärtsskurve in Bezug auf ein stabiles Pro-Kopf-BIP gebracht hat, das im Jahr 2021 auf unserem Niveau von 2014-2015 und von da an über unserem lag, obwohl es bei uns auch weiter aufwärts ging. ... Litauen und Estland haben zwar im Großen und Ganzen ähnliche Ziele verfolgt, aber Estland war in seinem Ansatz liberaler, schneller und radikaler als Litauen. ... Litauen war langsamer und zurückhaltender.“
Dogmatischer Umgang mit Staatsverschuldung
Estland geht die Rezession falsch an, resümiert Nerijus Mačiulis, Chefökonom einer in Litauen ansässigen schwedischen Bank, für Verslo žinios :
„Statt in erneuerbare Energien und Infrastruktur zu investieren oder Maßnahmen zur Förderung von Unternehmensinvestitionen und Exporten zu ergreifen, tut Estland genau das, wovor Wirtschaftslehrbücher und die Erfahrungen der EU aus den letzten Jahren warnen: Es führt eine fiskalische Konsolidierung durch und versucht, das Haushaltsdefizit schnell zu verringern. Anstatt [die niedrige Staatsverschuldung als] Stärke zu nutzen und durch Schulden die Wirtschaft kurzfristig anzukurbeln, schlägt das Land den entgegengesetzten Weg ein. ... Der dogmatische Umgang mit Staatsverschuldung, einst Estlands Stolz, hat das Land nun in die Knie gezwungen.“