Ukraine: Gebietsverzicht für Nato-Mitgliedschaft?

Der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat in einem Interview mit der Financial Times angedeutet, es gäbe die Option, dass die Ukraine mit einem Teil des nationalen Territoriums der Nato beitrete. Die Sicherheitsgarantien der Allianz würden dann nur für diesen Teil gelten, so wie sie beim Nato-Beitritt der Bundesrepublik 1955 zunächst nur für Westdeutschland galten. Europas Presse reflektiert.

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La Stampa (IT) /

Kyjiw braucht Sicherheitsgarantien

La Stampa glaubt, dass die Ukraine vom Ziel abrücken wird, einem Waffenstillstand nur bei Rückzug sämtlicher russischer Truppen zuzustimmen:

„Um den Krieg zu beenden, muss die Ukraine es schaffen, ihn nicht umsonst geführt zu haben. Das ist das Dilemma des ukrainischen Friedensplans. Wie kann man die Feindseligkeiten beenden und gleichzeitig die Sicherheit nicht nur vor künftigen russischen Aggressionen, sondern auch vor politischer Einmischung gewährleisten, die darauf abzielt, das gesamte Land wieder in die Umlaufbahn Moskaus zu bringen? Laut Selenskyj wird das Dokument im November fertig sein. Man kann sich einen Waffenstillstand vorstellen, bei dem das von Russland besetzte Gebiet in russischer Hand bleibt, ohne dass die Staatshoheit anerkannt wird.“

Unian (UA) /

Für Putin keine Option

Die Prioritäten des Kremls analysiert Politologe Wolodymyr Fessenko in Unian:

„Wenn es um den Nato-Beitritt der Ukraine geht, sollte man nicht vergessen, dass dieses Thema wohl das schmerzhafteste bei den Verhandlungen zur Beendigung des Krieges sein wird. Der neutrale Status der Ukraine ist eines der Hauptziele Putins, das er nicht so einfach aufgeben wird. Dieses Ziel ist ihm sogar deutlich wichtiger als die Frage der Anerkennung der besetzten ukrainischen Gebiete als russisches Territorium. Deshalb wird er mit aller Härte darauf bestehen, dass der neutrale Status eine der Hauptbedingungen für die Beendigung des Krieges in der Ukraine ist.“

Echo (RU) /

Gewalt gegen Russland genau dosieren

Politologe Wladimir Pastuchow analysiert in einem von Echo übernommenen Telegram-Post:

„Wenn der Westen von einem Kompromiss spricht, hat er das deutsche Nachkriegsmodell im Sinn: ein geteiltes Land, mit einem militärischen Vorposten der USA und einem Russlands. ... Doch noch läuft der Krieg für Putin viel zu gut, als dass er sich auf dieses Modell einlassen würde. Ohne Gewalteinwirkung wird er die österreichisch-georgische Variante durchdrücken [Neutralität, kein Nato-Beitritt]. Aber eine Gewalteinwirkung, die so dosiert ist, dass sie einerseits ausreicht, um Putin zu einem für den Westen annehmbaren Kompromiss zu bewegen, die aber andererseits Putin nicht zum Wahnsinn einer atomaren Eskalation provoziert – darin besteht das Hauptproblem für die Entscheidungszentren im Westen.“

Helsingin Sanomat (FI) /

Vier Fünftel des Landes bekämen eine Chance

Helsingin Sanomat hält die im Interview aufgezeigte Perspektive zumindest für überlegenswert:

„Stoltenbergs Vorschlag ist der erste öffentliche Vorschlag dieser Art. Der Ukraine wird es nicht gelingen, militärisch eine Entscheidung herbeizuführen, und die Nato ist nicht bereit, ihre Truppen zur Unterstützung der Ukraine einzusetzen. Stoltenbergs Vorschlag ist derzeit die am wenigsten unrealistische Idee, um der Ukraine den Weg in die Nato zu ebnen. Vier Fünftel der Ukraine bekämen die Chance voranzukommen. Über die Bedingungen der Verhandlungen entscheidet die Ukraine, aber jetzt wurde eine Richtung aufgezeigt.“

Espreso (UA) /

Eine Teilung könnte ewig dauern

Der Vergleich mit Deutschland hinkt, so der ehemalige ukrainische Botschafter in den USA Walerij Tschalyj in Espreso:

„Der Bazillus der 'schwierigen, aber unvermeidlichen Entscheidungen', die angeblich auf Analogien in der Geschichte beruhen, ist nicht nur in die müden Seelen unserer Partner eingedrungen, sondern breitet sich auch in der Ukraine aus. Gemeint ist die hypothetische Formel 'Austausch von Territorien gegen Nato-Mitgliedschaft'. Angeblich könnte die Erfahrung des geteilten Deutschlands genutzt werden. Doch das ist überhaupt nicht das Gleiche. ... Deutschland wurde zunächst geteilt, und erst danach wurde die Frage von Sicherheitsgarantien für die Bundesrepublik und West-Berlin gelöst. Im Fall der Ukraine ist genau das Gegenteil der Fall: Eine 'Kompromisslösung' würde das Land aufteilen. Vielleicht für immer.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Europäer haben wenig zu melden

US-Präsident Biden hat aufgrund des Hurrikans in Florida das Treffen der Ramstein-Kontaktgruppe verschoben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentiert:

„In der Endphase des Wahlkampfs können es sich die Demokraten nicht leisten, auch nur den geringsten Anschein zu erwecken, dass ihnen ein Krieg im fernen Europa wichtiger sei als Naturkatastrophen im eigenen Land. Diese Grundstimmung wird nach dem 5. November nicht vollständig verfliegen, darauf sollte sich Europa einstellen. Auffällig ist auch, dass die Euro­päer die immerhin mehr als fünfzig Teilnehmerstaaten der Ramstein-Gruppe nicht einfach selbst versammeln. ... Letztlich bestimmt Amerika den westlichen Kurs in Europas schlimmstem Krieg seit 1945, nicht die Europäer selbst.“