Russische Regime-Gegner demonstrieren in Berlin

Am Sonntag haben in Berlin einige tausend Putin-Gegner demonstriert. Sie folgten einem Aufruf von Julia Nawalnaja, der Witwe von Alexej Nawalny, und den Anfang August aus russischer Haft ausgetauschten Kremlkritikern Illja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa. Doch Einigkeit über Sinn und Nutzen solcher Aktionen gibt es in russischen Exil- und Oppositionskreisen nicht.

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Igor Eidman (RU) /

Die Russen werden Putin nicht stoppen

Der in Berlin lebende Soziologe Igor Eidman erklärt auf Facebook die Demo für kontraproduktiv - wobei er laut einem Spiegel-Bericht selbst teilnahm:

„Durch Berlin zu laufen und wie im Kindergarten zu rufen 'Putin, geh!' ist ziemlich sinnlos. Völlig unschädlich ist es auch nicht. Denn die Illusion eines Antikriegs-Russlands behindert den Kampf gegen das reale militärische Russland eher, als dass sie ihm hilft. Sie weckt falsche Hoffnungen, dass die Russen selbst Putin stoppen werden und damit der Krieg endet und die globale Bedrohung verschwindet. Der Westen sollte seine Anstrengungen nicht durch die Unterstützung eines mythischen Anti-Kriegs-Russlands vergeuden.“

Alexander Podrabinek (RU) /

Klappe halten ist doch keine Alternative

Bürgerrechtler Alexander Podrabinjok kann in seinem Facebook-Kanal die mitunter hämische Kritik an der Demo nicht nachvollziehen:

„Ich verstehe jene Ukrainer, die einfältig alle Russen als Ausgeburt der Hölle darstellen wollen, doch die Berliner Demonstration zerstört diese Konstruktion - wie sich zeigt, sind nicht alle Russen für Putin. Kollaps der Stereotypen! Aber warum lästern unsere Landsleute mit solchem Vergnügen über die Demonstranten? ... Selbst wenn die Demo nutzlos sein sollte und nicht hilft, ist doch auch nichts Schlechtes dabei, oder? Was hilft jetzt schon wirklich außer ATACMS-Raketen - aber heißt das, dass alle die Klappe halten und schweigen sollen?“

Sergej Medwedew (RU) /

Ein Ausdruck von Oppositions-Nostalgie

Politologe Sergej Medwedew hält es auf Facebook für falsch, in Bezug auf Russland noch in herkömmlichen Kategorien politischer Konkurrenz zu denken:

„All die Missverständnisse rund um den Berliner Marsch rühren daher, dass er um zwei Simulakren herum aufgebaut wurde: 'russische Politik' und 'russische Opposition'. In Wirklichkeit existiert beides nicht, sie sind irgendwo in 2011/2012 zurückgeblieben. Seither wurden sie vom Kreml gründlich ausgekehrt und vernichtet, einschließlich der Morde an zwei wichtigen Politikern, Nemzow und Nawalny ... Es ist schon gut, dass diese Aktion stattgefunden hat – sie hatte eine klare therapeutische, nostalgische und symbolische Wirkung. ... Aber die Aktion war vergangenheitsorientiert, nicht auf die Gegenwart und nicht auf die Zukunft.“

Abbas Galliamow (RU) /

Gegengewicht zur Kremlpropaganda

Politologe Abbas Galliamow hält es auf Facebook für wichtig, wenigstens außerhalb Russlands politisch Flagge zu zeigen:

„Nachdem die russischen Behörden alle Mechanismen [zur öffentlichen Meinungsäußerung] zerstört haben, wurde es möglich, der Gesellschaft die Meinung aufzuzwingen, dass sie Putin ausnahmslos liebt und den Krieg gutheißt. ... Die Opposition muss jedem protestwilligen russischen Bürger immer wieder demonstrieren, dass er oder sie nicht allein ist, dass es viele Menschen gibt, die so denken. Natürlich wäre es besser, dies mit Kundgebungen in Russland zu zeigen, aber da dies unmöglich ist, muss es dort getan werden, wo immer es geht. ... Das ist allemal besser, als nichts zu tun und dem Regime das Feld der öffentlichen Meinung kampflos zu überlassen.“

Echo (RU) /

Symbolische Solidarität mit Putins Opfern

Filmkritiker Anton Dolin betont in einem von Echo übernommenen Facebook-Post den Wert auch nur symbolischer Gesten:

„Ilja Jaschin wie auch Wladimir Kara-Mursa und Julia Nawalnaja haben durchgemacht, was sich viele von uns (Gott sei Dank) nicht einmal in Alpträumen ausmalen konnten, dabei aber ihr Denken und ihren Ruf rein gehalten. ... Ich weiß, ein Marsch durch Berlin wird den Krieg nicht beenden, Putin nicht stürzen und ihm nicht ins Gewissen reden. ... Symbolische Gesten ändern die Geschichte nicht, aber sie werden zu ihren wichtigen Seiten. Und auf lange Sicht, mit der richtigen Beharrlichkeit und Konsequenz, haben sie akkumulative Wirkung.“