Wien: Koalitionsgespräche von ÖVP und FPÖ geplatzt
In Österreich sind die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ gescheitert. Hauptgrund sei Streit über die Verteilung von Ministerposten gewesen, erklärte FPÖ-Chef Herbert Kickl. Zuvor hatten sich bereits SPÖ, ÖVP und Neos nicht einigen können. Kommentatoren beleuchten Ursachen und debattieren, wie es nun weitergehen könnte.
Verstörendes Schauspiel
Der Kurier zweifelt daran, ob die FPÖ jemals einen Koalitionspartner finden wird:
„Gut möglich, dass es der blauen Propagandamaschine gelingt, das eigene Scheitern allein der ÖVP und den anderen Kräften des 'Systems' in die Schuhe zu schieben. ... Schwer vorstellbar hingegen, dass sich nach dem verstörenden Schauspiel der vergangenen Tage in absehbarer Zeit noch irgendjemand findet, der mit der FPÖ koalieren will. Das dürfte auch für Kickl selbst nicht ohne Folgen bleiben. Nicht wenige Funktionäre hatten bei seiner Bestellung 2021 Bedenken, ob er aufgrund seines radikalen Auftretens der richtige Parteichef ist. ... Sie dürften sich künftig wieder lauter zu Wort melden.“
Kickl hat sein wahres Gesicht gezeigt
Der FPÖ-Chef ist mit seinen Forderungen eindeutig zu weit gegangen, kritisiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Die Provokation ist seit seinem Einstieg in die Politik vor dreissig Jahren sein Geschäft. Nun hat er sie aber offenbar zu weit getrieben und die ÖVP, die Neuwahlen eigentlich unbedingt verhindern wollte, damit vergrault. ... Der FPÖ-Chef hat damit eine Chance vertan, die sich möglicherweise so schnell nicht mehr bietet. An der Schwelle des Kanzleramts entschied er sich für Maximalforderungen anstatt dafür, für seine Wählerschaft einige Erfolge zu erreichen. ... Kickl hat sein wahres Gesicht gezeigt. Ihm schwebt wie einst seinem Vorgänger Jörg Haider eine dritte Republik vor. Das aber möchte die Mehrheit in diesem Land nicht.“
Radikale Wende fällt erstmal aus
Kickl wollte zu hoch hinaus, urteilt auch Corriere della Sera:
„Noch am vergangenen Samstag feierten die 'Patrioten' in Madrid die 'Rückeroberung' Europas und verwiesen auf die Führung des Wiener Kanzleramtes als einen der möglichen bevorstehenden Erfolge. Doch es kam anders, die FPÖ und die ÖVP konnten sich nicht einigen über Russland und den Krieg in der Ukraine, über das Verhältnis zur Europäischen Union, aber auch nicht über Kickls Forderung, seiner Partei die Aufsicht über die Geheimdienste, das Finanzministerium und das Innenministerium zu übertragen, was für eine radikale Wende in der Asylpolitik entscheidend ist.“
Mit Neuwahl wäre nichts gewonnen
Die Salzburger Nachrichten erörtern zukünftige Szenarien:
„Was nun? Eine Möglichkeit wäre die Wiederaufnahme der Regierungsgespräche von ÖVP, SPÖ und Neos. ... Eine weitere Möglichkeit wäre die Einsetzung einer Experten- oder einer Minderheitsregierung durch den Bundespräsidenten. ... Und dann gibt es natürlich die Möglichkeit von Neuwahlen. Die aber nichts bringen würden als einen neuerlichen monatelangen Wahlkampf und neuerliche monatelange Koalitionsverhandlungen. Und das womöglich mit einer FPÖ, die noch stärker ist als jetzt. Damit wäre nichts gewonnen. Und viel verloren. Vor allem wertvolle Zeit.“
Gestalten statt verwalten
ÖVP und SPÖ haben nun Grundsätzliches anzugehen, betont die taz:
„[D]enn Österreich ist weiter von einer handlungsfähigen Regierung entfernt denn je. ÖVP und SPÖ brachten keine Einigung zustande. Zu groß schien der nötige Kompromiss, zu groß waren die eigenen Egos und auch die Reformunfähigkeit der früheren Großparteien. ... Wenn die einstigen Großparteien retten wollen, was zu retten ist, braucht es vor allem Aufrichtigkeit und den Willen, Dinge anders zu denken. Jahrzehntelang hatten ÖVP und SPÖ Österreich vor allem verwaltet, aber kaum noch gestaltet. Wie soll dieses Land in der Mitte Europas in Zukunft aussehen? Das ist die Frage, auf die die früheren Großparteien eine Antwort finden müssen.“