Österreich: Neue Regierung im Amt
Nach mehreren gescheiterten Verhandlungsrunden wurde am Montag zum ersten Mal eine Dreierkoalition in Österreich vereidigt. Bundeskanzler in der neuen schwarz-rot-pinken Regierung ist der Konservative Christian Stocker (ÖVP), Vizekanzler ist SPÖ-Chef Andreas Babler. Die Vorsitzende der liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger, wiederum ist Außenministerin. Kommentatoren sind skeptisch, ob die Koalition halten wird.
Kommunikation ist entscheidender Faktor
Der Tages-Anzeiger warnt die neue Regierung davor, denselben Fehler wie die deutsche Ampelkoalition zu machen:
„'Durchs Reden kommen die Leut z’samm.' ... Tatsächlich verkörpert die neue Dreierkoalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und liberalen Neos diesen Grundsatz. Das Regierungsprogramm enthält sehr rechte Ideen wie eine strikte Asylpolitik, sozialdemokratische Forderungen nach bezahlbarem Wohnen und Besteuerung von Grosskonzernen sowie liberale bis neoliberale Positionen, was den Abbau von staatlichen Strukturen betrifft. ... In Deutschland ist letztes Jahr die ähnlich heterogene Ampelkoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP zerbrochen. Es ist zu hoffen, dass die österreichische Dreierkoalition nicht den Weg der Ampel einschlägt, sondern beim Reden und Zusammenkommen bleibt.“
Interessenspolitik als Gefahr
Die Kleine Zeitung sieht Hindernisse auf dem Weg zu einer erfolgreichen Regierungsarbeit:
„Früher oder später – erfahrungsgemäß geschieht dies in Österreich eher früher – wird die Klientellogik der drei Parteien wieder in den Vordergrund drängen. Das ist unvermeidlich, weil es der Natur von Politik in einer massenmedial befeuerten Stimmungsdemokratie entspricht. Das Hohe Lied auf Kompromiss und Konsensbereitschaft weicht dann dem Evangelium der eigenen Interessen – und meistens kommt der Druck dazu von der eigenen Funktionärsbasis oder den konkurrierenden Flügeln. … Dann erst wird sich zeigen, aus welchem politischen Holz die Drei an der Regierungsspitze wirklich geschnitzt sind. Beim Gestalten sind sie nämlich alle drei Lehrlinge.“
Regierung könnte krachen wie deutsche Ampel
Die ersten Streitigkeiten werden nicht lange auf sich warten lassen, erwartet die taz:
„Zwar wollen sich alle Parteien 'stärker in Europa einbringen'. Was heißt das aber genau? ... Auch Migration und Integration dürften Streitpunkte sein. Die ÖVP hat sich hier der FPÖ angenähert, will am liebsten gar keine Zuwanderung mehr und Unterstützungsgelder streichen. SPÖ und Neos sehen das anders. Und natürlich die soziale Frage. Die Sozialdemokraten, unter Andreas Babler dezidiert links, forderten Vermögens- und Erbschaftssteuern, konnten sich aber nicht durchsetzen. Doch die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Wohl an diesen Fragen wird sich zeigen, ob die Regierung hält. Oder kracht wie die deutsche Ampel.“
Können Anfänger das Chaos bewältigen?
Seznam Zprávy teilt die Sorge, dass die neue Regierung nicht lange durchhalten wird:
„Einer der Gründe ist, dass das Kabinett noch nie von einem so unerfahrenen Politiker geleitet wurde. Rechtsanwalt Christian Stocker (64) kam zuvor nicht über den Posten des Vizebürgermeisters der 50.000-Einwohner-Stadt Wiener Neustadt hinaus. ... Vor sechs Jahren zog er als Nachrücker ins Parlament ein und wurde im Januar eher durch Zufall Parteichef. Sein Vizekanzler, der Sozialdemokrat Andreas Babler (52), war vor seinem Regierungseintritt Bürgermeister von Traiskirchen mit 20.000 Einwohnern. Vor zwei Jahren wurde er unerwartet zum Chef der Sozialdemokraten. Zwei Menschen aus unbedeutenden Orten in der Nähe von Wien können das Chaos in der österreichischen Politik kaum bewältigen.“
Botschaft der Wähler verstanden
Die Salzburger Nachrichten loben:
„Was da auf den 211 Seiten des Regierungsabkommens steht, kommt dem vom Bundespräsidenten geforderten und aus der Mode gekommenen Aufeinanderzugehen schon recht nahe. Es ist auch kein Kompromiss, der alle nur unzufrieden zurücklässt. Tatsächlich sind alle drei Parteien über ihren Schatten gesprungen. ... Sachlich mag die Budgetkonsolidierung im Vordergrund stehen, emotional und gesellschaftlich ist eine wirksame Integrations- und Migrationspolitik der beste Hebel, um glaubhaft zu demonstrieren: Wir haben die Botschaft verstanden.“
Letzte Chance
Aus einer schwierigen Lage hat man das beste gemacht, beobachtet Dnevnik:
„Wäre die Regierungsbildung misslungen, wäre das Land den Umfragen zufolge noch abhängiger von der FPÖ geworden, deren Unterstützung nach den Wahlen weiter wuchs. Um Neuwahlen zu vermeiden, waren die Parteien daher gezwungen, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen und eine Einigung zu erzielen. Von ihrer Regierungsposition aus werden sie nun versuchen, den entfesselten Geist der FPÖ einzufangen, indem sie im Interesse der Bevölkerung arbeiten und so die allgemeine Unzufriedenheit beseitigen. Ähnlich wie in Deutschland ist dies vielleicht der letzte Versuch der etablierten Parteien, den Aufstieg der extremen Rechten einzudämmen.“
FPÖ wird sich weiter radikalisieren
Der Deutschlandfunk sieht wenig Grund für Selbstzufriedenheit:
„Die politischen Manöver aller Parteien – aber insbesondere der ÖVP – haben der ohnehin hohen Politikverdrossenheit in Österreich weiter Vorschub geleistet. ... Die ÖVP hat so schlechte Umfragewerte wie nie und stellt nun voraussichtlich dennoch den Kanzler: Christian Stocker, der nicht der Spitzenkandidat der Partei bei der Wahl war und dessen Legitimität man daher anzweifeln kann. Und das tut allen voran die FPÖ. Die Partei hat jetzt schon begonnen, sich noch weiter zu radikalisieren. Sie wird wohl immer weiter ins Verschwörungsmilieu abdriften. Und als größte einzelne Fraktion im Nationalrat wird sie ihre Instrumente und die Bühne zu nutzen wissen.“