Ende der Ampel: Was geschieht in Deutschland?

Nach dem Bruch der Ampel-Koalition zwischen SPD, FDP und Grünen stehen in Deutschland die Zeichen auf Neuwahlen. Bundeskanzler Olaf Scholz will erst im Januar die Vertrauensfrage stellen und vorher noch wichtige Entscheidungen durchs Parlament bringen. Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) pocht hingegen auf einen frühestmöglichen Wahltermin. Europas Presse schaut besorgt nach Berlin, sieht aber auch Chancen.

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L'Opinion (FR) /

Schlechter Zeitpunkt für Europa

Deutschlands Krise schadet Europa, analysiert L'Opinion:

„Die Ampel-Koalition ist schon seit drei Jahren chaotisch und lag auch schon zuvor im Sterben. ... Das zeigt, dass Frankreich mit seiner politischen Krise nicht allein ist. ... Deutschland geht es schlecht, wie die Schließung der VW-Werke sowie die Notwendigkeit, die eigene Verteidigung zu überdenken, zeigen. In der Geschichte Europas ist das noch nie eine gute Nachricht gewesen. Vor allem nicht zu einem Zeitpunkt, an dem Emmanuel Macron zu Recht für ein 'strategisches Erwachen' Europas plädiert, wie er es am Donnerstag in Budapest vor den europäischen Staats- und Regierungschefs getan hat. Aber wer glaubt schon, dass dies mit einem abwesenden Deutschland möglich sein könnte?“

Jyllands-Posten (DK) /

Ein Vorbild nach dem anderen bricht weg

Nach dem Wahlsieg Trumps und den Ereignissen in Berlin fragt Jyllands-Posten, an wem sich Staaten wie Dänemark künftig orientieren sollen:

„Als kleines Land hat sich Dänemark damit getröstet, von den Großen beschützt zu werden. Oder genauer gesagt navigiert zwischen den Punkten des Dreiecks London, Berlin und Washington, manchmal mit einem kleinen Abstecher nach Paris. ... Jetzt liegt Deutschland am Boden. Sollte die Krise in eine Bundestagswahl münden, ist es keineswegs selbstverständlich, dass die dann gewählten Politiker mit Demut und dem Dogma, dass ein guter Deutscher ein guter Europäer ist, an die Aufgabe herangehen werden. ... Wenn die Briten draußen, die Deutschen am Boden und die USA unberechenbar sind, wohin wird Dänemark dann schauen?“

De Volkskrant (NL) /

Stabilität, aber mit Rechtsdrall

De Volkskrant sieht Chancen für eine Große Koalition:

„Die Regierungskoalition kommt [in den Umfragen] auf weniger Stimmen als Oppositionsführer CDU allein. .. Aber CDU und SPD zusammen kommen auf etwa 50 Prozent. Und damit rechnet die CDU: Die SPD klein genug halten, um sie in einer neuen Koalition zu dominieren, aber nicht zu klein, dass eine dritte Partei notwendig wäre. Damit kommt eine Rückkehr der Großen Koalition ins Blickfeld, die Zweiparteienkoalition, die Deutschland über Jahrzehnte stabil hielt. Das wäre für viele Deutsche aus der demokratischen Mitte keine schlechte Nachricht. Aber die CDU anno 2024 ist eine sehr konservative Partei, die beim Asylthema nach radikal-rechts neigt. Damit liegt für die letzte progressive Großmacht von Europa ein Rechtsruck in der Luft.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Das Misstrauen ist enorm

Die Deutschen trauen auch der Opposition wenig zu, betont der Tages-Anzeiger:

„Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich die nächste Regierung leichter mit den anstehenden Aufgaben tut als die Ampel. Angesichts der Stärkeverhältnisse wird auch sie wieder zwei oder mehr Parteien über die politische Mitte hinweg vereinen müssen – mit allen ideologischen Widersprüchen, die das mit sich bringt. Das Misstrauen der Deutschen ist derzeit enorm. Den Christdemokraten von Friedrich Merz etwa, die laut Umfragen gerade mehr Zuspruch erhalten als SPD, Grüne und FDP zusammen, traut nicht einmal jeder Vierte zu, dass sie besser regieren als zuletzt die verhasste Ampel.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Neue Harmonie zwischen Berlin und Brüssel

Für die EU ist das Aus der Ampel eine Erlösung, findet die Süddeutsche Zeitung:

„In Brüsseler Abstimmungen wurde die deutsche Enthaltung, wegen Uneinigkeit zwischen FDP und Grünen, zum Markenzeichen: 'German Vote' – denn sie wissen nicht, was sie tun. ... Geht man davon aus, dass die Christdemokraten den nächsten Kanzler stellen ..., eröffnen sich im Zusammenspiel zwischen Berlin und Brüssel demnächst völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, entstammt der CDU. Der mächtigste Mann im Europaparlament, Manfred Weber, entstammt der CSU. Europas christdemokratisch-konservative Parteienfamilie stellt die Hälfte der neuen Kommission und führt die Hälfte der nationalen Regierungen in der EU. Vor allem in ihrer Verantwortung liegt es nun, ein Zeitalter der Trumpisten in Europa zu verhindern.“

Aktuality.sk (SK) /

Das wird eine wilde Fahrt

Aktuality.sk befürchtet nach vorgezogenen Wahlen in Deutschland eine starke Polarisierung:

„Wenn die CDU/CSU Partner für die künftige Regierungskoalition auswählen muss, wird sie nicht mit SPD oder Grünen eine gemeinsame Basis finden, sondern mit der AfD. Zusammen kämen sie locker auf über 50 Prozent. Dies würde wiederum Widerstand von links provozieren, von den Extremisten des Bündnisses der ehemaligen Kommunistin Sahra Wagenknecht. ... Der Kampf zwischen Neofaschisten und Kommunisten verspricht wirklich nichts Positives für Europas stärkste Wirtschaft. Nach Befürchtungen einer möglichen Bedrohung der Demokratie in den USA droht dem stärksten EU-Land eine ähnliche Entwicklung. Das wird eine wilde Fahrt, halten Sie Ihre Hüte fest!“

Delfi (LV) /

Die politische Elite hat es noch nicht kapiert

Journalist Māris Zanders geht in einem Kommentar bei Delfi auf die Wahlchancen extremer Parteien ein:

„Wagenknecht [BSW] wird Pro-Kremlismus vorgeworfen, aus dieser Sicht ist sie wirklich gefährlich, aber sie weiß diese Position attraktiv zu verpacken. ... Mir scheint, dass die politische Elite des Westens nicht versteht, dass immer mehr Wähler sowohl radikale Veränderungen (Nieder mit den Eliten!) als auch die Wahrung der gewohnten Ordnung (Keine 'inklusive Gesellschaft' und anderen 'liberalen' Unsinn!) fordern. Ist ein solcher Salat schädlich? Wenn er nur ein Gericht des Menüs ist, besteht kein Grund zur Panik. Wenn er jedoch auch Vorspeise, Suppe und Dessert ersetzt, kann es zu Verdauungsproblemen kommen.“

The Spectator (GB) /

Deutschland in unruhigen Gewässern

The Spectator zeigt sich besorgt:

„Was als Nächstes kommt, ist alles andere als klar. Da die Haushaltsgespräche gescheitert sind und die FDP nun nicht mehr in der Koalition ist, hat Scholz keine parlamentarische Mehrheit, um ein neues Konjunkturprogramm zu verabschieden. Deutschland wird es deshalb im nächsten Jahr an einer klaren Wirtschaftsstrategie fehlen. Das dürfte zwar sehr wahrscheinlich erst ein Problem für die nächste Regierung werden, doch in der Zwischenzeit wird Deutschland wirtschaftlich orientierungslos in die stürmischen Gewässer des Jahres 2025 einfahren.“

Zeit Online (DE) /

Scholz kann nicht führen

Es wäre zu einfach, nur Lindner die Schuld zu geben, betont Zeit Online:

„Scholz’ Ampel ... war so verzankt und in sich widersprüchlich, dass viele Wähler und Wählerinnen sich mehr Führungsstärke des Regierungschefs gewünscht hätten. Doch Scholz kam diesem Bedürfnis nur selten nach. Und wenn er sprach, dann so technokratisch und kompliziert, dass er nicht recht durchdrang. So schuf Scholz selbst das Vakuum, das Lindner und andere unzufriedene Ampelpolitiker über Gebühr nutzten. Auch bei den Grünen machten führende Parteimitglieder zuletzt Scholz’ Führungsstil recht offen für den Zusammenbruch der Ampel mitverantwortlich.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Nicht weiter durchwurschteln

Es ist nicht gerade der ideale Zeitpunkt, und doch war der Koalitionsbruch wohl das kleinere Übel, befindet die taz:

„[E]s ist eine absurde Vorstellung, dass der Bundeskanzler über die Marktplätze der Republik turnen soll, um noch ein paar Rentner von der Sozialdemokratie zu überzeugen, während Trump die Weltordnung verändert, mit unabsehbaren Folgen für den gesamten Westen, aber auch die Ukraine, Israel und Palästina. Aber ist der Schritt hin zu Neuwahlen deshalb falsch? Es stimmt, das Timing ist schwierig, und Stabilität kann manchmal ein Wert für sich sein. Doch ein Weiter-so der Ampel wäre eine noch schlechtere Nachricht gewesen. Denn eine Lehre aus Trumps Wahlsieg ist auch: Mitte-Parteien, die sich weiter durchwurschteln, haben gegen den Rechtspopulismus auf Dauer keine Chance.“