Wie wird Deutschland unter einem Kanzler Merz?

Nach dem Sieg bei der Bundestagswahl will der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Friedrich Merz, schnell Gespräche mit der SPD über eine mögliche Regierungskoalition führen. Europas Presse debattiert, was man von dem Mann erwarten kann, der künftig wahrscheinlich Deutschland regiert.

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Süddeutsche Zeitung (DE) /

Gerade-so-Ko darf nicht scheitern

Auf Union und SPD lastet nun eine enorme Verantwortung, betont die Süddeutsche Zeitung:

„Sollte Merz die SPD jetzt vom gemeinsamen Regieren überzeugen, wäre das Ergebnis keine 'Große Koalition', allenfalls eine 'Es reicht gerade so'-Koalition. Merz würde mit dieser Gerade-so-Ko eine schwächere Groko führen als einst Angela Merkel – wobei er allerdings gleichzeitig viel größere Probleme lösen muss. ... Die größte Aufgabe der Gerade-so-Ko ist es, den Deutschen das Vertrauen in die demokratische Mitte zurückzugeben, das in den Ampeljahren verflogen ist – idealerweise durch klare Prioritäten und geräuschloses Regieren. Sollte diese schwarz-rote Koalition scheitern, stünde nämlich nicht nur die äußere Sicherheit auf dem Spiel. Die Demokratie würde auch von innen weiter geschwächt.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Solider Konservatismus statt Populismus

Der Tages-Anzeiger begrüßt die Unaufgeregtheit in Deutschland nach der Wahl:

„Im Zeitalter von Trump, Musk, Putin und Milei zu leben, das bedeutet auch, geschärfte Sinne für die Schönheit des Normalen zu entwickeln. Dinge, die uns einst selbstverständlich erschienen, wirken mit einem Mal kostbar und einer besonderen Erwähnung wert. ... Es hält kein Donald Trump Einzug ins Berliner Kanzleramt, sondern Friedrich Merz (CDU) – ein Mann, der als nachgeborene Inkarnation von Konrad Adenauers Wahlslogan 'Keine Experimente!' auftritt. Solider Konservatismus statt disruptiven Furors, grenzüberschreitendes Verantwortungsgefühl statt dumpfen Nationalismus, Respekt vor dem Rechtsstaat anstelle autokratischer Allüren.“

Karar (TR) /

Schwierige Zeiten für kulturelles Miteinander

Eine Diskriminierungspolitik wird bald in Deutschland Alltag werden, befürchtet Karar:

„Es scheint, dass Deutschland ein schwierigeres Land werden wird, sowohl für 'Ausländer', die dort leben, als auch für 'Ausländer', die dorthin reisen. In Ländern wie der Türkei werden die Warteschlangen für Visa länger, die Visafreiheit wird – auch wenn die Mitgliedschaft in der EU nicht mehr möglich ist – nicht eingeführt, Multikulturalismus wird der Vergangenheit angehören, obwohl es sowohl in der AfD als auch in der CDU/CSU türkische Kandidaten gibt. Diskriminierung, die in der Vergangenheit als beschämend galt, wird nun von großen Teilen der Bevölkerung als akzeptabel angesehen, und ein streitsüchtiges Verständnis von Zivilisation wird sich in die politische Sprache einschleichen.“

Le Monde (FR) /

Klare europäische Linie

Merz macht sich für Europa stark, lobt Le Monde:

„Friedrich Merz hat eindeutig die Lehren aus diesem geopolitischen Erdbeben gezogen. Am Sonntagabend verurteilte er die beispiellose Einmischung der USA in den Wahlkampf zugunsten der AfD und betonte die Notwendigkeit des Aufbaus einer europäischen Verteidigung. Für einen deutschen Politiker ist ein solcher Schritt nicht einfach. Diese Klarheit ist zu begrüßen: Dass sich Deutschland in diesem historischen Moment klar und entschlossen für die europäische Einheit einsetzt, ist von größter Bedeutung – insbesondere für Frankreich.“

La Stampa (IT) /

Große Nähe zu Finanzkreisen

La Stampa schaut auf die bisherige Laufbahn zurück:

„Anders als sein politischer Mentor Wolfgang Schäuble hat Merz stets lieber einen Schritt zurück als kämpferisch nach vorn getan. Was je nach dem Ergebnis als ein Zeichen von Klugheit oder von mangelnder Hartnäckigkeit gedeutet werden kann. Auch seine jahrzehntelange Nähe zu Finanzkreisen wirft nun berechtigte Fragen auf. Wird er die Autokrise wie ein Hedgefonds angehen oder dafür sorgen, dass sich die Finanzwirtschaft nicht von der Realwirtschaft entfernt? Wird er in der Lage sein, zu moderieren und Kompromisse zu schließen, oder wird er im Gegenteil Brüche erzwingen und die Karten neu mischen?“