Unruhen in Baltimore
Im US-amerikanischen Baltimore ist es nach der Trauerfeier für den Afro-Amerikaner Freddie Gray am Montag zu heftigen Ausschreitungen gekommen. Er war einer Verletzung erlegen, die er sich in Polizeigewahrsam zugezogen haben soll. Kommentatoren erklären, dass Ungleichheit und Hoffnungslosigkeit in den USA Gewalt gebären, loben aber auch die aktuelle gesellschaftliche Debatte über Rassismus und Diskriminierung.
Aufstand der Hoffnungslosen
Auslöser der Unruhen in Baltimore ist der Tod eines jungen Schwarzen - der Grund sind jedoch Ungleichheit und Hoffungslosigkeit, analysiert die liberale Sme: "Die Auseinandersetzungen haben ihre Wurzeln im amerikanischen System, das nur wenigen Menschen auf Kosten der Mehrheit dient. Baltimore war ursprünglich eine mehrheitlich weiße Industriestadt, die sich auf Schiffbau, Stahlwerke und Automobilbau stützte und auch Geringqualifizierten gut bezahlte Arbeit bot. Heute dominieren dort schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungssektor. In den Vierteln der Schwarzen lebt die Hälfte der Menschen unter der Armutsgrenze. Die Gewalt ist viermal so hoch wie im US-Durchschnitt. ... Der Aufstand der Hoffnungslosen richtet sich nicht gegen die Polizei oder die Weißen an sich. Eher gegen das System, das Ungleichheit gebiert und aus dem es nur schwer ein Entrinnen gibt."
Obama hat Rassismusdebatte erst ermöglicht
Die Polizeigewalt gegen Schwarze ist in den USA seit Monaten Gegenstand einer öffentlichen Debatte. Ermöglicht hat diese Diskussion erst Barack Obama, meint die staatliche Wiener Zeitung: "Als 2012 ein unbewaffneter Teenager namens Trayvon Martin in Florida erschossen wurde, sagte Obama: 'Wenn ich einen Sohn hätte, dann würde er aussehen wie Trayvon.' Vor weniger als einem Monat erinnerte er in Selma, Alabama, an die Bürgerrechtsmärsche vor 50 Jahren … 'Unser Marsch ist noch nicht zu Ende. Aber wir kommen dem Ziel näher', sagte er damals. Es ist kein Zufall, dass all die Polizeiübergriffe und Ungerechtigkeiten gegen Schwarze nun breit debattiert werden. Obama hat den Raum für derartige Debatten geöffnet. … [I]n vielen Herzen brennt die Hoffnung, dass für Afroamerikaner nach einer Präsidentschaft Obama nie wieder etwas sein wird wie davor."
Unreifer US-Staat ruft Gewalt hervor
Als eine der Ursachen für die Gewalt in Baltimore sieht die wirtschaftsliberale Tageszeitung Handelsblatt eine übergriffige Staatsgewalt, die historisch begründet ist: "Die Staatsgewalt war [nach der Kolonialisierung] sehr lose definiert und kam nur selten zum Einsatz. Wenn sie zu Hilfe gerufen wurde, dann doch eher in sehr gravierenden Fällen: Mord, Seuchen, Krieg. Die Aktionen der Polizisten, Bürgermeister oder Präsidenten waren entsprechend direkt und streng, der Idee der Abschreckung wurde dabei ein besonders hoher Wert beigemessen. ... Aus dieser Tradition erklärt sich die Unreife der staatlichen Institutionen. Sie sind weniger entwickelt als in Europa. ... Das amerikanische Verständnis vom Staat ist chaotisch, weil ad hoc. Es wird ausprobiert, verworfen und verbessert. Der Prozess dauert seine Zeit und strapaziert die Geduld der Zuschauenden und Betroffenen. Aber wer sich den Rassismus in den USA noch in den sechziger Jahren vor Augen führt, der wird sehen: Amerika wird es besser machen."