Merkel macht Flüchtlinge zur Chefsache
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Montag in Berlin größere Anstrengungen Deutschlands im Umgang mit der Flüchtlingskrise angekündigt. Zudem forderte sie mehr Zusammenarbeit innerhalb der EU. Endlich übernimmt Merkel die Führungsrolle in Europa, jubeln einige Kommentatoren. Andere halten ihre Einstellung zu Flüchtlingen für naiv.
Endlich übernimmt Deutschland Führungsrolle
Europa kann sich glücklich schätzen, dass jemand in der Flüchtlingskrise vorangeht, urteilt die liberale Tageszeitung Corriere del Ticino: "In Kriegen und Notständen zeigt sich, wer Führungskraft besitzt. Eine Mangelware in Europa. Mit einer Ausnahme: Angela Merkel. Ihre Stellungnahme in der Flüchtlingsfrage ist dazu bestimmt, die kontinentale Machtgeografie nachhaltig zu verändern. ... Das Wort deutsche Vorherrschaft gefällt nicht. Ein europäisches Tabu. Finanzminister Schäuble lehnt es ab. Vielleicht weil es Synonym für mehr Verantwortung und folglich auch für mehr Kosten ist. Doch in den jüngsten Reden von [Bundes-]Präsident Gauck und Außenminister Steinmeier kommt eine anderes Bewusstsein zur Sprache, das die Rolle des Landes als globaler Akteur akzeptiert. Wenn Deutschland eine höhere Verantwortung und die Führung nicht nur in der Wirtschaft sondern auch in strategischen Fragen übernimmt, sollte dies kein Grund zur Sorge für die europäischen Partner sein. Die Gespenster der Vergangenheit sollten ruhen."
Hoffentlich nicht nur schöne Worte
Zwar spät, aber mit einer bemerkenswerten Rede hat sich Merkel der Flüchtlingspolitik angenommen, lobt die konservative Tageszeitung Die Welt und fordert nun schnelle Verbesserungen: "Nun will Merkel es also angehen. Mit einem Gesetzespaket, das die unsinnigsten Hürden für schnellere Hilfe ausräumt und mit zusätzlichem Geld. Hier wird die Kanzlerin schnell konkreter werden müssen, wenn die Wirkung ihres guten Auftritts nicht verpuffen soll. Auch in Europa muss die mächtigste Politikerin des Kontinents ihre Macht nun auch nutzen: Für eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge, ja, aber auch für ein Ende von Subventionen und Schutzzöllen, die afrikanischen Ländern Entwicklungschancen rauben. Fast amerikanisch pragmatisch-optimistisch hatte Merkel das Versprechen ihrer neuen Flüchtlingspolitik angelegt. Und tatsächlich stehen die Chancen für eine gelingende nationale Kraftanstrengung gar nicht so schlecht. Eine eingespielte große Koalition, die endlich ihren Sinn fände. ... Dazu eine hochtourig laufende Wirtschaft und eine der besten Verwaltungen der Welt."
Merkel blauäugig gegenüber Flüchtlingen
Die Aussage Merkels, dass Deutschland noch mehrere hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen kann, findet die konservative Tageszeitung Le Figaro naiv: "Es mag sein, dass es in Deutschland für hunderttausende Migranten im Erwachsenenalter Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie und im Dienstleistungsbereich gibt, doch in Italien, Spanien und Frankreich ist das nicht der Fall. Diese Länder sind nicht einmal dazu in der Lage, ihrer eigenen Jugend Jobs anzubieten. … Merkel scheint den Menschen ausschließlich als wirtschaftendes Wesen anzusehen. In Wahrheit ist er jedoch vor allem ein kulturelles Wesen. Warum sonst hat es in schwedischen Vorstädten [2013] Krawalle gegeben, wobei doch in diesem Land kaum Arbeitslosigkeit herrscht? Offenbar ist Europa die soziale und kulturelle Integration der muslimischen Arbeitsmigranten der sechziger Jahre und ihrer Nachkommen noch nicht vollständig gelungen. Seltsam, dass Angela Merkel sich weigert, dies festzustellen."