Noch immer keine Flüchtlingsquote
Die EU-Innenminister haben sich am Montag wieder nicht auf die von der Kommission vorgeschlagene Flüchtlingsquote geeinigt. Sie vertagten die Entscheidung, wie insgesamt 160.000 Flüchtlinge in der EU verteilt werden sollen, auf Oktober. Einige Kommentatoren kritisieren den Egoismus der Einzelstaaten und bedauern, dass das Foto des kleinen Aylan kein Umdenken bewirkt hat. Andere hoffen, dass die Staats- und Regierungschefs den Streit beilegen werden.
Die EU bricht ohnmächtig zusammen
Scharfe Kritik an der Zerstrittenheit der EU in der Flüchtlingspolitik übt die liberale Tageszeitung La Stampa: "Was wir Europa nennen, im Glauben es sei eine politische Realität und kein Puzzle aus Interessen, Tricksereien und Heucheleien, ist am Ende unter dem Gewicht seiner eigenen Ohnmacht zusammengebrochen: keine Aufnahmequoten für Flüchtlinge, dafür aber Grenzen, die sich in trister Abfolge schließen. … Während im Meer Mütter und Kinder ertranken, stritt man in Brüssel über Migrantenquoten lächerlichen Ausmaßes: 5.000 hier, 1.000 dort. Deutlich wie nie zuvor zeigt sich die Weltfremdheit der Technokratie, die meint, die Realität mit absurden Regeln lenken zu können, die nicht Bedürfnissen gemäß erstellt werden, sondern auf dem Gleichgewicht der Mächte der 28 Länder der sogenannten Union beruhen. Die Brüsseler Version der Banalität des Bösen sieht so aus: Man glaubte, man könnte auf den epochalen Tsunami der Migration mit der Besonnenheit gemeinschaftlicher Entscheidung reagieren."
Europas Solidarität ist wieder verpufft
Die Erschütterung, die das Bild des toten Flüchtlingskindes Aylan hervorgerufen hatte, ist schnell verflogen, klagt die linksliberale Tageszeitung El Periódico de Catalunya: "Keine zwei Wochen sind vergangen, seit das Bild des syrischen Jungen Aylan das Gewissen der Europäer wachrüttelte und die harte Haltung einiger Regierungen in Bezug auf die Flüchtlingsaufnahme aufweichte. Und schon ist alles wieder wie vorher. Ein Teil der Gesellschaft (vor allem im sogenannten Westeuropa) organisiert in den Städten ein Netzwerk zur Aufnahme derjenigen, die vor Konflikten in Asien und Afrika fliehen. Währenddessen verstricken sich die Regierungen der EU-Staaten in ihren Streit um Bürokratie und Wahlinteressen. Dabei vergessen sie in vielen Fällen, Spanien eingeschlossen, ihre eigene jüngste Vergangenheit, in der Generationen von Landsleuten dasselbe Schicksal erlitten."
Setzt die EU künftig auf Egoismus?
Die EU droht an der Flüchtlingskrise zu zerbrechen, fürchtet das Nachrichtenportal Spiegel Online und bedauert, dass das Verhalten der EU-Regierungen "keinerlei gemeinsame Linie erkennen lässt, die zumindest die Hoffnung auf eine langfristige Lösung der Flüchtlingsmisere wecken könnte. Dazu müssten die EU-Staaten ihre Außen-, Wirtschafts-, Sicherheits- und Entwicklungshilfepolitik koordinieren und so genügend Gewicht auf die Waage bringen, um Krisen schon an den Herden anzugehen - und Flüchtlingswellen zu verhindern, bevor sie entstehen. Das allerdings setzte Einmütigkeit in einem Umfang voraus, der derzeit nicht einmal ansatzweise zu sehen ist. ... Das alles wirft Fragen auf, die den Existenzgrund der EU berühren: Will sie eine Staatengemeinschaft sein, die Probleme gemeinsam angeht, auch wenn sie manche Staaten weniger betreffen als andere? Oder will sie eher eine Art lockerer Freihandelsraum sein, dessen Mitglieder in allen wichtigen Fragen allein - und eben auch egoistisch - entscheiden?"
Einigung in letzter Minute noch denkbar
Dass letztlich die Staats- und Regierungschefs über die Flüchtlingspolitik der EU entscheiden werden, vermutet die Tageszeitung România Liberă: "Formell wären nur 18 Stimmen der insgesamt 28 Staaten nötig gewesen, doch man hat sich nicht für diese Lösung entschieden. Der Grund: In der Regel trifft man die Entscheidungen im Konsens. Gibt es große Unterschiede zwischen den Staaten, dann überlässt man den Staats- und Regierungschefs das letzte Wort. … Bislang sollen es zehn Staaten sein - aus Ost- und Nordeuropa - die die Quote ablehnen. Doch nichts ist in Stein gemeißelt und der nächste Gipfel könnte ein Umdenken in letzter Minute bringen. ... Andererseits muss man sagen, dass seit 48 Stunden der Schengenraum in Stücke zerrissen ist. Und das wird sich auch nicht ändern, solange es nicht eine gemeinsame europäische Entscheidung in Hinblick auf die Flüchtlinge gibt."