Erdoğan und EU feilschen um Flüchtlingspolitik
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird am heutigen Montag mit EU-Vertretern in Brüssel über ein gemeinsames Vorgehen in der Flüchtlingskrise verhandeln. Warum sollte die Türkei einer EU helfen, von der sie seit Jahren stiefmütterlich behandelt wird, fragen sich einige Kommentatoren. Andere finden es unerträglich, dass die EU als Bittsteller an Erdoğans Tür klopft.
Warum sollte Ankara der EU helfen?
Die EU hält die Türkei seit zehn Jahren mit Beitrittsverhandlungen hin, erinnert die liberale Tageszeitung Jutarnji List und fragt sich, warum das Land unter diesen Umständen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise helfen sollte: "Ist die Türkei einfach so bereit, derselben EU zu helfen, die sie auf Distanz bei den offiziellen Beitrittsverhandlungen hält? Selbst [Präsident] Erdoğans größte Kritiker finden, die EU ist unehrlich und unfair zur Türkei und dass es besser wäre, offen zu sagen es sei unmöglich, dass sie EU-Mitglied wird. ... Die Türkei hat die Beitrittsverhandlungen vor genau zehn Jahren begonnen, am selben Tag wie Kroatien, sogar eine Stunde vor uns. Doch ist Kroatien schon seit zweieinhalb Jahren EU-Mitglied und die Türkei hat sich kaum bewegt. ... Es ist schwer, einen einflussreichen Diplomaten in der EU zu finden, der wirklich an einen Beitritt der Türkei glaubt. Jedoch hat niemand den Mut, den Prozess zu beenden und so geht die Scharade weiter."
Erdoğan, der zweifelhafte Retter Europas
Der Zeitpunkt, an dem die EU als Bittsteller an seine Tür klopft, könnte für den türkischen Präsidenten besser nicht sein, meint die linksliberale Tageszeitung Der Standard: "Vier Wochen vor den neuerlichen Parlamentswahlen in der Türkei, die das schlechte Ergebnis für die Regierungspartei korrigieren sollen, lässt sich Tayyip Erdoğan in Brüssel empfangen. Er will die Visafreiheit für die Türken, die Öffnung neuer Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen, er will Geld. Vor allem aber will er Bilder für die türkischen Medien: Erdoğan, der Retter Europas. ... Dieses Gebräu von Populismus und Politikversagen ist schwer genießbar. Selbst wenn Erdoğan es wollte: Einmauern kann er die mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in seinem Land nicht. Die EU-Regierungen haben das Flüchtlingsproblem in der Türkei lang ignoriert. Erdoğan hat sich aber auch nicht helfen lassen. Brüssel hofiert ihn jetzt, wo mehr denn je Kritiker mundtot gemacht werden und im Südosten der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen."
EU und Türkei brauchen einander
Vor dem Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Brüssel fordert der linksliberale Tages-Anzeiger von der EU, auf die Türkei zuzugehen: "Es hiess bei den Gegnern immer, die Türkei als EU-Mitglied würde das Ende einer politischen Union bedeuten, die europäische Idee sei dann tot. Tatsächlich? Die Zerrissenheit des Landes gehört zur Identität der Türkei. Aber das ist ihr eigentlicher Vorteil, der Grund, warum gerade sie als Teil eines nach aussen gewandten Europas einen Platz in dieser Gemeinschaft verdient hat. Die EU kann dann allerdings nicht mehr so tun, als ginge sie die islamische Welt nichts an. Die Bedrohung durch den IS und die Flüchtlingskrise belegen ohnehin das Gegenteil. Auch der sultaneske Staatschef kann kein Grund sein, weiterhin auf Distanz zur Türkei zu bleiben. Die Erdoğan-Dämmerung hat eingesetzt. Vielleicht bringt er noch einmal die Kraft zur Erneuerung auf. Nur das kann seine Macht noch sichern. Nach ihm braucht die Türkei die EU dringender denn je."