Österreich entscheidet auch über Europa
Die Stichwahl um das Präsidentenamt in Österreich an diesem Sonntag ist auch eine Abstimmung über das Verhältnis zu Europa, glaubt die linksliberale Tageszeitung Der Standard:
„Die zentrale politische Frage für ein kleines, exportorientiertes Land mitten im Kontinent lautet wie schon nach dem Ende der Ost-West-Teilung 1989: Wie halten wir es mit Europa? Will Österreich als EU-Mitglied weiter zum Kern der Gemeinschaft (mit Deutschland, Benelux und Frankreich) gehören - samt Euro, offenen Grenzen, in einer liberalen, marktwirtschaftlichen, werteorientierten Union? Oder will es - wie einige EU-Partner und Parteien - den Weg zurück antreten, zu mehr Nationalismus, zum Sich-Verschließen? Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer stehen da einander frontal gegenüber. Insofern wird die Wahl tatsächlich zu einer Richtungsentscheidung. Aber gerade darüber wird zu wenig, wird viel zu oberflächlich debattiert.“
Slowakei und Tschechien bieten gute Lehrstücke
Bevor die Wähler am Sonntag ihre Entscheidung fällen, sollten sie einen Blick auf die Politik ihrer Nachbarländer werfen, rät Sme:
„Wenn die Österreicher über ihre nördliche Grenze sehen, haben sie zwei Beispiele zur Orientierung. Ein warnendes in Tschechien, wo die Wahl von [dem Moskau und Peking zugeneigten Präsidenten] Miloš Zeman die westliche Orientierung des Landes zunichte gemacht hat. Oder, im Gegensatz dazu, das positive slowakische Beispiel. Dort verhinderte 1999 und 2004 die Nichtwahl von [dem autokratischen] Vladimír Mečiar, dass die Slowakei zum schwarzen Loch Europas wurde. Damals in den Stichwahlen die Stimme [den Kontrahenten] Rudolf Schuster und vor allem Ivan Gašparovič zu geben, war für die Wähler demokratischer Parteien viel schwerer, als für die österreichischen Sozialdemokraten und Konservativen nun die Unterstützung von Van der Bellen wäre.“
FPÖ verwendet Front-National-Strategie
Der Erfolg der FPÖ im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl ist nicht nur auf die Flüchtlingskrise zurückzuführen, analysiert Le Point.
„Norbert Hofer hat sich das Thema Migration geschickt zunutze gemacht. Um einen echten Durchbruch zu erzielen, musste die FPÖ-Stimme jedoch akzeptabel - oder besser: respektabel - gemacht werden. Dazu hat die rechtsextreme österreichische Partei Marine Le Pens Entdämonisierungsstrategie detailgetreu umgesetzt: Erstens ein schöner, junger, lächelnder, liebenswerter Spitzenkandidat aus dem einfachen Volk, der seine Frau und seine vier Kinder in den Vordergrund stellt und seine Behinderung - die Folge eines Gleitschirmunfalls - nicht versteckt; zweitens ein Verbot verbaler Entgleisungen; drittens ein Großreinemachen im Hinterzimmer der Partei, die ihre Beziehungen zur Neonaziszene bislang nicht verleugnet hat.“
Hofer stellt sich den entscheidenden Themen
Für die bulgarische Zeitung Novinar spricht Norbert Hofer die Themen an, die den Bürgern unter den Nägeln brennen:
„Wen hätten die Österreicher denn wählen sollen? Einen, der alle Flüchtlinge willkommen heißt und den Wählern erzählt, dass er ihre Steuern für Flüchtlingslager und Sozialhilfe für Flüchtlinge ausgeben will? Einen, dem es absolut egal ist, ob es in seinem Land mehr Kathedralen oder mehr Moscheen gibt? Ein Kandidat mit solchen Botschaften wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen - nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa. Im Wahlkampf können diese Themen heute nicht mehr verschwiegen werden - und das ist gut so. Politiker müssen klar Position beziehen und können nicht mehr so tun, als würde die Flüchtlingskrise sie nichts angehen. Sie können zu diesem heiklen Thema nicht einfach schweigen und ihren Wahlkampf der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit widmen oder einem anderen netten Thema aus guten alten Zeiten, als in Europa noch alles in Ordnung war.“
FPÖ-Präsident wäre erst der Anfang
Der Rechtsruck in Österreich wäre nach einem Sieg Norbert Hofers in der Stichwahl noch nicht beendet, schwant der in Prag erscheinenden Lidové noviny:
„In der Vergangenheit war es üblich, dass der amtierende Bundeskanzler dem neuen Staatschef formal seinen Rücktritt anbietet und dieser die Demission ablehnt. Hofer aber hat erkennen lassen, dass er sich einen besseren Kanzler als Werner Faymann vorstellen kann. Die Verfassung erlaubt Hofer, den Kanzler abzuberufen. ... Dann wäre es nur noch eine Frage der Taktik, wann Hofer seinen Parteichef Heinz-Christian Strache zum neuen Regierungschef ernennt. Tut er das gleich nach seiner Wahl? Oder wartet er, bis die jetzige (rot-schwarze) Koalition von sich aus zerbricht? Bei vorzeitigen Wahlen gäbe es heute einen klaren Favoriten: Hofers FPÖ. Das Erdbeben vom Sonntag wäre dann nur das erste von mehreren gewesen.“
Rechte reißen sich Netz unter den Nagel
Der Wahlerfolg der FPÖ in Österreich hängt auch mit ihrer Strategie für die sozialen Medien zusammen, analysiert Spiegel Online-Kolumnist Sascha Lobo:
„Die im massenmedialen 20. Jahrhundert geprägte Spitzenpolitik hat inzwischen zwar zur Kenntnis genommen, dass mit dem Internet und den sozialen Medien ein Rückkanal entstanden ist. Sie hat bloß zu selten danach gehandelt und zu oft nicht verstanden, dass die Existenz eines Rückkanals einen Dialog ermöglicht. ... Es ist außerordentlich traurig, dass auf diese Weise das Gefühl, in sozialen Medien ernst genommen zu werden, von Rechtspopulisten derart vereinnahmt worden ist. Die digitale Fußgängerzone bestimmt inzwischen Wahlen. Und gewonnen haben in Österreich nicht die mit den besten Lösungen oder der größten Erfahrung, sondern die mit der menschlichsten Ansprache. Außer man ist Ausländer.“
Hofers Erfolg stärkt Le Pen und Wilders
Der unerwartete Erfolg des FPÖ-Kandidaten wird auch anderen EU- und islamkritischen Parteien in Europa neuen Schwung bringen, analysiert The Irish Times:
„Hofers Erfolg steht zweifelsohne in direktem Zusammenhang mit seiner harten Linie beim Thema Zuwanderung. In Österreich gab es im vergangenen Jahr 90.000 Asylanträge. Das ist die zweithöchste Pro-Kopf-Rate in Europa. ... Hofer wird die Wahl vermutlich nicht gewinnen, weil sich Österreichs liberale Mehrheit mit Sicherheit geschlossen hinter Alexander Van der Bellen stellen wird. Doch der Trend legt nahe, dass die FPÖ nach der Parlamentswahl 2018 mit ziemlicher Gewissheit Teil einer Regierungskoalition sein wird. Das würde sie zu Europas erfolgreichster rechtspopulistischer Partei machen. Frankreichs Marine Le Pen und der Führer der niederländischen EU- und islamfeindlichen Partei der Freiheit, Geert Wilders, werden sich schadenfroh die Hände reiben.“
Signal aus Wien exemplarisch für Europa
Die Volksparteien haben ihren Auftrag nicht erfüllt, beobachtet De Volkskrant und sieht den Wahlsieg der rechten FPÖ als exemplarisch für die politischen Verhältnisse in Europa:
„Die rot-schwarze Regierungskoalition von SPÖ und ÖVP ist geschlagen. Dafür gibt es interne österreichische Ursachen, aber auch europäische. ... Die Wähler in Österreich sind nicht allein mit ihrer Unzufriedenheit über die Unfähigkeit des politischen Establishments in Europa, die Flüchtlingskrise und die wirtschaftliche Malaise nicht in den Griff zu bekommen. Das Daseinsrecht der Volksparteien beruhte auf dem Streben nach Existenzsicherung und der Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen. Da sie nicht in der Lage sind, diesen Auftrag zu erfüllen, ist der Weg frei für Populisten von rechts und links.“
Direkte Demokratie statt Berufspolitik
Der Rechtsruck bei der Präsidentenwahl in Österreich zeigt, wie sehr sich die etablierten Parteien von den Wählern entfernt haben, meint die wirtschaftsliberale Zeitung Finanz und Wirtschaft:
„Das Publikum fühlt sich nicht ernst genommen oder gar belogen von Berufspolitikern, deren 'Programm' sich auf das Erhalten der eigenen Macht beschränkt. Es merkt, dass das immer gleiche Personal mit seinen immer gleichen Phrasen nicht auf der Höhe der Zeit ist. Das sind jedoch auch, wohl mit Ausnahme von Spaniens liberalen Ciudadanos, die neuen Kräfte nicht, weder rechte noch linke. Am allerwenigsten diejenigen, die Nationalismus mit Sozialismus mischen, wie Marine Le Pens FN. Sollten in Europa nun abgewirtschaftete Parteien durch dilettantische ersetzt werden, dann gute Nacht repräsentative Demokratie. Dagegen hilft: Direkte Demokratie. Die entmachtet die Parteien - und entlastet sie zugleich.“
"Populisten" genau unter die Lupe nehmen
Es hilft jetzt nichts, die FPÖ einfach als rechtspopulistisch abzustempeln, mahnt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Dass ihre Parolen beim Volk (populus) ankommen, zeigt schon die demoskopische Befragung der Wähler Hofers: Für die meisten war das stärkste Motiv, er 'versteht die Sorgen von Menschen wie wir'. Aber beim Begriff des Populismus schwingt der Vorwurf mit, die Partei mache dem Volk unhaltbare oder dem Gemeinwohl schädliche Versprechungen. Und diesen Vorwurf dürfte man dann auch Parteien wie der SPÖ (Sozialstaatspopulismus) oder der ÖVP (Interessengruppenpopulismus) nicht ersparen. Man sollte also die Nazi-Keule wegstecken und die konkreten politischen Absichten und Taten kritisch, wie bei jedem, unter die Lupe nehmen. Da fände sich genug zu bemängeln, vom integrationsschädlichen Herabwürdigen solcher Einwanderer, die nun mal im Lande sind, bis hin zu utopischen Sozialversprechungen, die denen der SPÖ in nichts nachstehen.“
Das Ende einer Ära
Weder die Konservativen noch die Sozialdemokraten konnten sich in der Wahl durchsetzen. In der Stichwahl am 22. Mai tritt deshalb FPÖ-Kandidat Hofer gegen Alexander Van der Bellen von den Grünen an. Österreichs Volksparteien stehen vor einem Scherbenhaufen, analysiert Die Presse:
„Wenn die alte Politik nicht versteht, dass die Anhänger der Rechtspopulisten einerseits und die jungen, politisch skandinavisch denkenden Wähler andererseits eine umfassende Veränderung der Politik, des Stils und des Landes fordern und durchsetzen werden, erleben wir nun die letzten Monate einer Ära. Was danach kommt, ist völlig offen, lustig ist ein Interregnum nie. Möglich sind Entwicklungen wie in Ungarn und Polen ebenso wie der Siegeszug eines neuen Wählerverstehers aus den Trümmern der Volksparteien. Oder häufige Wahlen wie einst in Italien. Oder Experimente wie in Dänemark und anderen kreativen Demokratien. So wie bisher bleibt es nicht. Da müssen wir durch.“
Regierungsparteien mit weltfremden Kandidaten
Für die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP verlief die Wahl verheerend, was nicht zuletzt an ihren Kandidaten lag, spottet Péter Techet, Kolumnist bei Magyar Nemzet:
„Die zwei Regierungsparteien sind mit denkbar schwachen Kandidaten ins Rennen gegangen: dem Gewerkschaftsvertreter der Bediensteten für sozialen Wohnungsbau, sprich dem 'Haupthausmeister' Rudolf Hundstorfer und dem Vorsitzenden des Rentnerverbandes, Andreas Khol. Beide Kandidaten verkörperten karikaturesk den jämmerlichen Zustand ihrer Parteien. Hundstorfer ist seit seinem 15. Lebensjahr in der muffigen Gewerkschaftsbewegung aktiv, Khol wiederum ist der Vertreter eines lebensfremden katholischen Bürgertums, der sich darüber wunderte, dass seine Rente in Höhe von 8.000 Euro nicht österreichischer Durchschnitt ist.“
Nicht von den Rechtspopulisten abkupfern
Österreichs Regierungsparteien sollten es nach ihrem Desaster bei der Präsidentschaftswahl mit sachlicher statt populistischer Politik probieren, meint die liberal-konservative Neue Zürcher Zeitung:
„Der Wahltag hat ... gezeigt, dass es falsch wäre, die Rezepte der FPÖ in verwässerter Form zu übernehmen. So war zwar die Flüchtlingskrise auch in diesem Wahlkampf das dominierende Thema, was den Rechtspopulisten half. Dass die Koalition in diesem Bereich einen harten Kurs verfolgt, hat ihren Kandidaten aber nicht geholfen. Auch kristallisierte sich die Wut der Österreicher nicht nur in Form von Unterstützung für die FPÖ. Vielmehr vereinigten die beiden gemässigten Kandidaten Alexander Van der Bellen und Irmgard Griss vierzig Prozent der Stimmen auf sich. Beide traten eher spröde sowie dezidiert unpopulistisch auf und argumentierten differenziert. Dies spricht für die Reife der Wähler, die einen Wandel wollen, jedoch nicht dem Reiz von Scheinlösungen erliegen. Die Regierung sollte das Fiasko als Auftrag verstehen, eine ehrlichere und lösungsorientierte Politik zu verfolgen.“
Eine Niederlage für Europa
In Österreich bestätigt sich nur die anti-europäische Tendenz, die in allen EU-Staaten um sich greift, seufzt La Stampa:
„In Österreich nimmt das Gespenst Gestalt an, das seit geraumer Zeit durch Europa geistert: der Sieg antisystemischer Kräfte, der sich von Frankreich über Deutschland und Italien bis nach Großbritannien erstreckt. ... Ein Sieg, der weniger davon zeugt, dass sich eine logische Alternative für das, was Europa geschaffen hat, durchsetzt. Sondern eher ein Sieg, der für eine Bewegung steht, die eine schwindende Zustimmung in jenes Ideal verkörpert. ... Ein Ideal, das der Motor der Geschichte unseres Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg war. Der epochalen Flüchtlingskrise sind die traditionellen Parteien weder mit einer humanitären, sozialen Politik noch mit einem politischen Narrativ entgegen getreten, das den Werten der EU entsprochen hätte und zugleich eine Antwort auf das Unbehagen und die - legitimen - Ängste der Wähler gewesen wäre.“
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