Obama ermahnt Europa
In einem eindringlichen Appell hat Barack Obama Europa zu mehr Zusammenhalt aufgerufen. Der US-Präsident warnte anlässlich seines Besuchs in Hannover vor nationalen Egoismen und lobte Merkels Flüchtlingspolitik. Kommentatoren fragen, warum Obama sich am Ende seiner Amtszeit so stark um Europa kümmert.
Ermutigende Worte eines Freundes
Dass Obamas Rede dem krisengeschüttelten Europa die Errungenschaften seines Einigungsprojekts wieder vor Augen führt, hofft The Guardian:
„Manchmal braucht es einen Freund, der Deine Stärken hervorhebt und Deine Entschlossenheit stärkt. Der US-Präsident war bei seiner Europavisite ein solcher Freund. ... Es war eine schmeichelhafte Rede, und ein großer Teil von ihr klischeehaft. Doch wenn es jemanden gibt, der Klischees auf ein höheres Niveau heben kann, dann ist es Obama. Beinahe 60 Jahre nach seiner Grundlegung braucht das europäische Projekt eine lautstarke und klangvolle Erzählung. Etwas, das das Vertrauen der Bürger wiederherstellt, die von Populisten jeder Couleur umworben werden. ... Danke, Mister President. Genau das haben wir gebraucht.“
Am Ende schert sich Obama doch um Europa
Eine späte Einsicht des US-Präsidenten erkennt Diário de Notícias:
„Obama mag sich [während seiner Amtszeit] zwar von einer Neuorientierung auf die Asien-Pazifik-Region haben leiten lassen, doch er wird sein Mandat in Europa beenden. Die EU-Krise, der ungebremste Putinismus in der Ukraine und anderswo in der EU, die Gefahr eines Brexit und die Unsicherheit in der Mittelmeerregion lassen ihm keine andere Wahl. … Kritik muss sich Obama nicht gefallen lassen, weil er abwesend war, sondern weil er es nicht verstanden hat, zur richtigen Zeit und auf die richtige Art und Weise da zu sein. … Nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als im Endspurt persönlich in Europa zu erscheinen und sich gegen den Brexit und für das TTIP-Abkommen auszusprechen. So versucht er, Moskau so gut es geht in Schach zu halten - und hofft, dass Brüssel, Berlin und Athen eine Verständigung erreichen, damit nicht weitere europäische Hauptstädte in Brand gesteckt werden.“
EU-Fan aus heiterem Himmel?
Obamas Aufmerksamkeit für Europa am Ende seiner Amtszeit hat viel mit seiner Nachfolge zu tun, glaubt der Corriere del Ticino:
„Vor allem auf den letzten beiden Etappen seiner Abschiedstour, in Großbritannien und in Deutschland, ist das Bestreben Obamas deutlich geworden, sich Europa wieder annähern zu wollen. Einem Europa, dem er offenkundig in den vergangenen acht Jahren distanziert gegenüberstand. ... Da ist die Frage mehr als legitim, warum Obama plötzlich wieder den Weg nach Europa eingeschlagen hat. Dafür gibt es zwei Gründe. Einerseits entdeckt der US-Präsident, dass Amerika im eigenen Interesse nicht auf den alten Kontinent verzichten kann, sowohl in militärisch-strategischer Hinsicht, als auch in wirtschaftlicher. Andererseits kommt Obama nach Europa, um die Wahltrommel zu rühren. Nicht für sich selbst, sondern um die Kandidatur von Hillary Clinton zu unterstützen, gegen die drohende Gefahr des Isolationismus, für den der republikanische Kandidat Donald Trump steht.“
Schöne Worte helfen nicht
Obama hat Merkels Flüchtlingspolitik gelobt - auch mit Blick auf nationalistische Parteien im Aufschwung. Das tat er aus purem Eigeninteresse, glaubt die Tageszeitung taz:
„Mit Ausnahme ihrer osteuropäischen Ableger vereint diese rechten Emporkömmlinge eines: Außenpolitisch schielen sie eher in Richtung Moskau als in Richtung Washington. Hält ihr Aufstieg an, stehen die transatlantischen Beziehungen vor der größten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Es liegt also im ureigenen amerikanischen Interesse, die verbliebenen proeuropäischen Kräfte und deren Galionsfigur Merkel zu stärken. Aber reichen schöne Worte dafür aus? Oder müsste Obama seiner europäischen Freundin nicht ganz praktisch helfen? Die USA haben zwar zu den aktuellen Fluchtursachen beigetragen, bisher aber nicht einmal 10.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Würde Obama ... nennenswerte Kontingente nach Amerika holen, ließe der Druck auf Europa nach. Die Rechtspopulisten könnten dann tatsächlich an Schwung verlieren.“
Lob für Merkel kritisch sehen
Obamas Lob für Merkels Flüchtlingspolitik übersieht, dass der deutsche Alleingang in dieser Angelegenheit auch Gefahren für das europäische Projekt birgt, mahnt die Tageszeitung La Vanguardia:
„Das Lob von Obama an Kanzlerin Merkel bezüglich der Aufnahme von Flüchtlingen ist gleichzeitig auch eine Ermahnung an die übrigen EU-Staaten, mehr Verantwortung zu übernehmen. Die deutsche Führungsrolle ist eine zweischneidige Angelegenheit: Einerseits hält sie die europäische Flagge in Krisenzeiten hoch. Auf der anderen Seite fördert sie eine gewisse Passivität der anderen, von internen Problemen geplagten Mitgliedsstaaten und birgt so das Risiko, dass diese sich der kollektiven Verantwortung entziehen.“
Europa muss sich selbst retten
Gerade in Zeiten großer Krisen kann Europa sich nicht mehr hinter dem atlantischen Verbündeten verstecken, betont De Standaard:
„Es wird immer deutlicher, dass die USA zwar noch immer ihre eigenen Interessen sicher stellen wollen, aber nicht mehr unsere auf sich nehmen werden. Die atlantische Distanzierung trifft Europa gerade jetzt, wo der innere Zusammenhalt im letzten halben Jahrhundert noch nie in einem so schlimmen Zustand war. Wir lassen uns vom türkischen Präsidenten Erdoğan lächerlich machen und von Putin herausfordern. Zugleich erlaubt sich ein großer Mitgliedsstaat den Luxus eines Exit-Referendums. Es ist, als würden wir mit unserer Schwäche kokettieren. In der Welt von heute und sicher in der von morgen muss man für solche Laxheit irgendwann einen Preis bezahlen.“