Neuer Anlauf für Wahl in Spanien
Nach Monaten politischer Blockade, in denen sich die Parteien nicht auf eine Regierung geeinigt haben, sollen die Spanier am Sonntag erneut wählen. Umfragen zufolge könnte das Linksbündnis Unidos Podemos zulegen, klare Mehrheitsverhältnisse zeichnen sich nach wie vor nicht ab. Bringt die Wahl Spanien weiter?
Es versagen die Politiker, nicht die Wähler
An die Koalitionsbereitschaft der Politiker appelliert kurz vor der Wahl Jorge de Esteban in El Mundo:
„Am Tag nach der Wahl wird die Stunde der Wahrheit schlagen. Derzeit wissen wir, dass keine Partei allein eine Regierung bilden kann. Wenn wir nicht zur Witzfigur der Welt werden und einen dritten Anlauf zur Parlamentswahl vermeiden wollen, müssen sich endlich Koalitionen bilden. George Bernard Shaw sagte einst ironisch, die Demokratie sei ein Verfahren, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen. Diese These mag im Allgemeinen stimmen, aber im aktuellen Fall Spaniens hege ich Zweifel. In unserer Demokratie versagen nicht die Wähler, sondern eine politische Klasse, die - abgesehen von einigen Ausnahmen - unfähig ist, sich an die neue soziologische Realität anzupassen. Diese macht absolute Mehrheiten schwierig, wenn nicht unmöglich.“
Spanien vor historischer Wende?
Die Wahl könnte einen Wandel in Spanien einläuten, glaubt Politologe Manuel Cervera-Marzal in Libération:
„Obwohl Mariano Rajoys Partido Popular (mit 29 Prozent der Stimmen) stärkste Partei werden soll, ist er stark isoliert. Keine der drei anderen politischen Formationen will sich zum Gespött machen, indem sie eine Koalition mit der bisherigen Regierung eingeht, die die meisten Spanier als korrupt und als Handlanger der Banken ansehen. Die einzige ernsthaft vorstellbare Alternative ist eine 'Regierung des Wandels' aus den beiden linken Kräften: der sozialistischen PSOE und Unidos Podemos. Dazu müssen beide zusammen allerdings auf 176 Abgeordnete kommen. Wenn ihnen das gelingt, steht Spanien vor einer historischen Wende. Europa ebenfalls?“
Podemos dominiert den Wahlkampf
Das linkssozialistische Parteienbündnis Izquierda Unida und die linke Partei Podemos wollen bei der Neuwahl am 26. Juni in Spanien gemeinsam kandidieren. Die konservative Zeitung La Razón ist erstaunt, wie es Podemos-Chef Pablo Iglesias gelingt, im Wahlkampf den Ton anzugeben:
„Das Interessante am politischen Phänomen Podemos ist, dass die Partei trotz mangelnder Erfahrung in Parlament oder Regierung das Spielfeld beherrscht. Sie bestimmt sogar die Wahlstrategie der übrigen Parteien und wird für die Sozialisten, die das linke Lager mit ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte dominiert haben, zur echten Gefahr. [Sozialistenführer] Pedro Sánchez ist für die Machtspiele von Iglesias besonders anfällig. Seine Schwäche folgt aus seiner strategischen Orientierungslosigkeit, die ihn daran hindert, sich klar zu positionieren: entweder auf Seiten der 'Anti-Sparkurs-Parteien' oder an der Seite von Politikern wie Renzi, Valls oder den deutschen Sozialdemokraten, die Merkel unterstützen.“
Sinnvoller Kampf um Stimmen der Empörten
Izquierda Unida und Podemos haben ihre gemeinsame Wahlliste kurz vor dem Jahrestag des 15. Mai 2011 auf dem Madrider Platz Puerta del Sol bekanntgegeben, wo vor fünf Jahren die Protestbewegung 15-M entstand. Der Chefredakteur der Gratiszeitung 20 minutos Arsenio Escolar hält das in seinem Blog für einen geschickten Schachzug:
„Videos von Pablo Iglesias [Podemos] und Alberto Garzón [Izquierda Unida] enden in einem gemeinsamen Bild, einer Umarmung der beiden auf dem Platz Puerta del Sol. Damit machten sie wenige Tage vor dem fünften Jahrestag des 15-M den Pakt publik, mit dem sie gemeinsam zu den Wahlen am 26. Juni antreten. ... In den kommenden Tagen werden wir weitere Gesten, weitere Mediencoups rund um den Jahrestag sehen. Noch mehr Gesten, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Wahlbündnispartner zeigen. Werden sie sich auf die Wahlergebnisse auswirken? Wahrscheinlich schon.“
Hoch lebe die Neuwahl!
Die erste Neuwahl in der Geschichte Spaniens ist kein Fiasko, sondern ein Grund zur Freude, jubelt der spanische Journalist Miguel Angel Belloso in Diário de Notícias:
„Die Bildung einer Linksregierung in Spanien ist nun unwahrscheinlicher als vorher. Warum das ein Grund zur Freude ist? Nun, in erster Linie, weil die Abmachung zwischen Sozialistenchef Sánchez und Rivera von der Protestpartei Ciudadanos, die nicht weiß, ob sie links oder rechts ist, nicht nur eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben von mindestens 20 Milliarden Euro vorsah, sondern auch die Korrektur einer Arbeitsreform, die in den vergangenen zwei Jahren 900.000 Arbeitsplätze schuf. … Wie auch die Wiederbelebung eines finanziell untragbaren Sozialstaats. … Dementsprechend sollten wir Spanier vor Freude jubeln - also genau das Gegenteil von den doch so vernünftigen Kommentatoren konventioneller Medien, die gerne vom vermeintlich großen Fiasko der Wahlwiederholung sprechen.“
Auch Protestparteien haben keine Lösungen
Die festgefahrene politische Situation in Spanien zeigt, dass Protestparteien nicht mehr Lösungen parat haben als die etablierten, bemerkt Der Standard aus Wien:
„Nun gehen alle Parteien mit einem ordentlichen Malus in die Neuwahl: nicht nur die Konservativen und Sozialisten … sondern auch die bisherigen Hoffnungsträger vieler Spanier – Podemos und Ciudadanos. Sie alle haben bewiesen, mit dem Wählerwillen zwar gut argumentieren, aber nicht pragmatisch umgehen zu können. Wenn man nicht alleine bestimmen kann, muss man eben Kompromisse eingehen. ... Doch Spanien ist nur ein Beispiel für den politischen Umbruch in Europa. Die Wahlerfolge von Syriza in Griechenland, von Grillo in Italien, der AfD in Deutschland und nicht zuletzt der FPÖ sind Symptome dafür, dass die Politik alten Zuschnitts ausgedient hat. Das zu erkennen, den Protest zu formulieren und stimmenmaximierend zu kanalisieren ist der leichtere Teil der Übung. An der Lösungskompetenz wird man dann gemessen.“
Und wenn die Bürger ihre Wahl nicht revidieren?
Die Folgen der gescheiterten Regierungsbildung werden die Spanier in den kommenden Monaten schmerzhaft zu spüren bekommen, fürchtet El Periódico de Catalunya:
„Die erste Folge wird sein, dass wir mindestens sieben Monate lang mit einer Übergangsregierung leben müssen, die in einem Land voller drängender Probleme keine wichtigen Entscheidungen treffen kann. ... Die Wirtschaftskrise ist nicht überwunden, der Haushalt ist eine Katastrophe, die soziale Kluft wächst, die Rentenkasse leert sich, das Problem der territorialen Ordnung - mit Katalonien an erster Stelle - wird immer vertrackter, und die Korruption stellt alles in den Schatten. Mit dem erneuten Urnengang wird den Bürgern, wenn auch implizit, mitgeteilt, sie hätten sich bei der Wahl geirrt, sie sollten ihre Stimme überdenken. Was aber, wenn die meisten bei ihrer Entscheidung bleiben? Wird es dann zum dritten Mal Wahlen geben?“
Die Hängepartie wird weitergehen
An den unklaren Mehrheitsverhältnissen werden auch Neuwahlen nichts ändern, glaubt Il Sole 24 Ore:
„Die Wahl im Dezember hat dem Land ein Parlament beschert, das so zersplittert ist wie nie zuvor. In den über vier Monaten, die seitdem vergangen sind, hat man sich nicht einmal ansatzweise einer Einigung auf eine stabile Regierung genähert. ... Die Linie von Podemos war von Anfang so klar wie unversöhnlich: Parteichef Iglesias betonte zwar seinen Willen, eine Einigung finden zu wollen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass er die Bedingungen bestimmt. ... Ob die Neuwahlen aus der Sackgasse herausführen, bleibt ungewiss. ... Beobachter von Barclays Research prophezeien, dass das Parlament so zersplittert bleiben wird, aber dass der Druck auf die großen Parteien wachsen wird, eine Regierung zu bilden - wohl ohne Podemos.“
Mehr Meinungen