Hauchdünner Sieg für Van der Bellen
Grünen-Kandidat Alexander Van der Bellen hat die Präsidentenwahl in Österreich knapp gewonnen – mit einem Vorsprung von rund 31.000 Stimmen auf Norbert Hofer von der FPÖ. Damit beweist das Land, dass es bunter ist als viele glauben, zeigen sich einige Kommentatoren erleichtert. Andere werten das starke Abschneiden Hofers als Alarmsignal für ganz Europa.
Der Aufstieg des nationalen Sozialismus
Rechtsparteien wie die FPÖ punkten bei immer mehr Wählern, indem sie nationalistisches Gedankengut mit wirtschaftspolitischen Konzepten der Linken kombinieren, analysiert Kolumnistin Anne Applebaum in The Washington Post:
„Die gewachsene Unterstützung für all diese Parteien wird gewöhnlich der Flüchtlingswelle zugeschrieben, die aus Syrien und Nordafrika nach Europa kommt. Diese Parteien sind in der Tat ein Magnet für zuwanderungsfeindliche Stimmungen. Doch kaum jemand hat bemerkt, dass nationalistisch-sozialistische Parteien auch Wähler gewinnen, die des unternehmerfreundlichen Sozialismus der Mitte-Links-Parteien und des Pragmatismus der Mitte-Rechts-Parteien überdrüssig geworden sind. Vielleicht ist es nicht überraschend: Der Zusammenbruch der Sowjetunion liegt bereits eine Generation zurück. Zentralisierung, Nationalisierung und Protektionismus wirken allesamt wie neue Ideen auf Menschen, die sich daran nicht erinnern. Wenige erinnern sich an die Armut oder die Korruption, zu der sie führten.“
Ein kritischer Europäer
Mit Alexander Van der Bellen haben die Österreicher einen Europabefürworter gewählt, der kritische Worte gegenüber der EU gleichsam nicht scheut, schreibt Der Standard:
„Der Ex-Parteichef der Grünen und Ökonomieprofessor war immer ein Befürworter der Integration, auch als seine Parteifreunde 1994 den EU-Beitritt noch ablehnten. Dass er kein unkritischer Geist ist, kein 'EU-Jubler', und auf stärkere Akzente in ökologischen und sozialen Fragen drängen wird, ist sogar ein Vorteil. Es wäre sehr gut, wenn Europapolitik in Österreich vom Schwarz-Weiß-Denken befreit wird, es zu einer vernünftigeren Debatte über die Zukunft des Landes in Europa käme. Van der Bellen hat angekündigt, er wolle das Land vereinen, auf Kritiker und EU-Skeptiker zugehen: ein gutes Rezept gegen rechts. Wenn ihm das gelingt, wird er ein großer Präsident.“
Rechtspopulisten punkten mit sanfteren Tönen
Der FPÖ, aber auch anderen rechten Parteien in Europa, ist es gelungen, mit gemäßigteren Botschaften breitere Kreise der Bevölkerung anzusprechen, analysiert The Daily Telegraph nach Ende des Wahlkrimis:
„Bis vor Kurzem war es noch so, dass die negativen Emotionen, die von solchen Parteien erzeugt wurden, diesen nur ein gewisses Maß an Zuspruch ermöglichten - vor allem in Zweier-Duellen. Das war etwa in Frankreich zu beobachten, wo der Front National seinen Wähleranteil zwischen erstem und zweitem Urnengang bei den Regionalwahlen im Dezember nur gering steigern konnte und deshalb keine einzige Region gewinnen konnte. Solche Parteien schwächen ihre Kernbotschaften jedoch zusehends ab. Indem sie Anti-Zuwanderungsmaßnahmen mit Mitte-Links-Wirtschaftsrezepten verschmelzen, sind sie imstande, Wähler abseits ihrer traditionellen Basis anzusprechen. Es ist bemerkenswert, dass junge Wähler, von denen viele annehmen würden, dass sie kosmopolitischer eingestellt sind, bereit sind, für solche Parteien zu stimmen.“
Das sympathische Österreich hat gewonnen
Dass die Wahl Van der Bellens Österreich verändern kann, glaubt die Südostschweiz:
„In einer emotionalen Achterbahnfahrt von wenigen Wochen erreichte eine Nation die Tiefen des Rechtspopulismus, legte sogar eine kleine Geisterbahn-Etappe durch die Vergangenheit zurück – und plötzlich ist alles anders. ... Ausdruck der Stimmung im Land ist die Wahl eines grünen Präsidenten nicht. Aber sie kann die Stimmung umkehren. Österreich ist verunsichert, seit Langem chronisch schlecht gelaunt. Aber Österreich ist nicht so rechts, wie man es im Ausland gerne glaubt. Und Alexander van der Bellen ist Österreicher durch und durch. Mit seiner Gelassenheit, seiner Selbstironie, seiner Toleranz und seiner Widerständigkeit gegen die Zumutungen von Konformismus und – rechtem wie linkem – Spiessertum verkörpert er eine sympathische Seite österreichischer Identität. Es wäre nicht verwunderlich, wenn der Grüne ein sehr populäres Staatsoberhaupt würde.“
Das Land ist bunter geworden
Die Bundespräsidentenwahl hat das politisch bislang von SPÖ und ÖVP geprägte Land vielfältiger gemacht, meint der liberale Kurier:
„Schlagzeilen wie 'Gespaltenes Land' und 'Österreich ist zerrissen' sind oberflächlich und kurzsichtig. Österreich ist auf Dauer nicht in zwei Lager gespalten worden. Im Gegenteil: Die politischen Lager sind noch beweglicher geworden. Erstmals haben Zehntausende eingefleischte Schwarze oder Rote – viele mit zugehaltener Nase – einen Grünen oder Blauen gewählt. Wer ein Mal anders wählt, ist ein Stammwähler a. D. Bei passendem Angebot wird für sie beim nächsten Mal gelten: Die Person zählt vor der Parteizugehörigkeit. ... Die politische Landschaft wird bunter, vielfältiger – und damit unberechenbarer. “
Mehr als ein Warnschuss
Keinen Grund zum Aufatmen sieht hingegen die Financial Times:
„Indem die Wähler um ein Haar Norbert Hofer zum ersten rechten europäischen Staatschef nach dem Krieg gemacht hätten, haben sie die Freiheitspartei normalisiert, deren Revisionismus und Antisemitismus zuvor als inakzeptabel galten. ... Von Hofers Rückhalt bei den Wählern werden andere Parteien profitieren, die, wie der Front National in Frankreich, eine Strategie der 'Dekontaminierung' verfolgen. ... In einem von der Flüchtlingskrise dominiertem Klima gerät die offene Gesellschaft nicht nur durch extremistische Parteien in Gefahr, die an die Macht kommen, sondern auch durch Mainstream-Parteien die sich der gleichen ausländerfeindlichen Logik annehmen und diese verstärken. Die jüngsten Ereignisse in Österreich zeigen, dass diese Politik der Angst schnell außer Kontrolle geraten kann.“
Hofers Politik hat schon längst triumphiert
Wer glaubt, dass ein Abgleiten der österreichischen Politik in den Rechtsextremismus mit der Wahl Van der Bellens verhindert worden wäre, irrt, warnt die Zeitung Novi list:
„Zwar ist es Hofer nicht gelungen, den Präsidentenpalast zu erobern, doch seine Politik triumphiert schon seit Langem und das nicht nur in Österreich, sondern in großen Teilen Europas. Hätte Hofer doch zufällig gewonnen, wäre er nicht in der Lage gewesen, seine unerhörte Politik durchzuführen. Und das nicht, weil der Präsident kaum Befugnisse hat, sondern weil Hofers rechtsextremistische Politik schlichtweg schon von der sogenannten gemäßigten Rechten und der Sozialdemokratie verwirklicht wurde. Mit dem Schließen der Grenzen, Stacheldraht, Flüchtlingsobergrenzen und einem der rigidesten Asylgesetze hat schon [Ex-Kanzler Werner] Faymann die EU erschüttert und eine gemeinsame europäische Lösung der Flüchtlingsfrage erfolgreich verhindert.“