Wie fair war das Referendum?
In Großbritannien zweifeln viele das Ergebnis des Brexit-Referendums an. In einer Petition fordern mehr als drei Millionen Menschen eine zweite Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Die Alten haben mit ihrem Votum den Jungen die Zukunft verbaut, meinen einige Kommentatoren. Andere kritisieren, dass die Brexit-Wähler als zweitklassig dargestellt werden.
Rentner versauen den Jungen die Zukunft
Im Brexit-Referendum haben letztlich die Älteren eine Entscheidung getroffen, die vor allem die junge Generation betrifft, bedauert El País:
„Sie können es noch gar nicht glauben, dass sie sich in Europa nicht mehr wie bisher bewegen können, dass ihr Leben in der Metapher der in sich verschlossenen Insel verlaufen soll. Und alles nur, weil die Alten Angst haben. Aber nicht nur beim britischen Brexit-Votum hat sich die Generationenkluft aufgetan. Auch in von der Krise getroffenen Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien gibt es sie. Die Jungen sind die großen Verlierer der Krise. Sie müssen zusehen, wie die Entscheidungen der Älteren ihre Zukunft zerstören. Die vorherigen Generationen erlebten einen sozialen Aufstieg. Sie schufen den Wohlstandsstaat. Die Jungen müssen sich nun in einer extrem wettbewerbsorientierten Welt behaupten, die immer ungeregelter wird und in der die sozialen Einrichtungen, die sie gegen die Widrigkeiten des Lebens schützen, in einer dauerhaften Krise stecken.“
Alte nicht zu Sündenböcken machen
Der Vorwurf, dass die Alten die Jungen mit dem Brexit-Votum in den Abgrund stürzten, erzeugt beim Kolumnist Vladimiras Laučius auf dem Portal Delfi einen Wutausbruch:
„Die Rhetorik ist einfach ekelhaft, sie stellt die Brexit-Wähler als zweitklassig dar. Als ob die Alten sowieso bald sterben und von ihnen nicht die Zukunft Großbritanniens und der EU abhängen sollte. Was ist das für eine Klassifizierung der Menschen - in unnütze Alte und die hochwertige Jugend? Dieselben Liberalen, die bei jeder Gelegenheit - manchmal auch bekifft - Diskriminierung wittern, philosophieren jetzt kaltherzig darüber, ob die Alten nicht ein Hindernis für die Entwicklung sind. Sollte man sie nicht einfach sterben lassen und dann ein Referendum organisieren? Herzlichen Glückwunsch zu diesen Zeiten, in denen statt dem früheren Slogan 'Juden raus!' der Leitspruch 'Alte raus!' verwendet wird.“
Sieg der Demagogie und Pöbel-Politik
Der Ausgang des EU-Referendums ist Grund zur Sorge, denn die falschen Werte haben gesiegt, beklagt der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy im Irish Examiner:
„Die historische Brexit-Entscheidung ist kein Sieg des Volks, sondern des Populismus; nicht der Demokratie, sondern der Demagogie. Es ist ein Sieg der extremen Rechten gegenüber der gemäßigten Rechten und der radikalen über die liberale Linke. Es ist ein Sieg der Fremdenfeindlichkeit. ... Es ist ein Sieg des verstaubten Englands über ein weltoffenes England, das sich mit seiner glorreichen Vergangenheit verbunden fühlt. Es ist die Niederlage des Anderen gegenüber des aufgeblasenen Ichs, die Niederlage von Komplexität gegenüber der Diktatur der Einfachheit. ... Im Ausland ist es ein Sieg für Donald Trump, der zu den ersten gehörte, die das Abstimmungsergebnis begrüßten und für Wladimir Putin, dessen Traum und Plan - und das kann nicht laut und oft genug wiederholt werden - seit langem der Zusammenbruch der Europäischen Union ist.“
Eine undemokratische Volksabstimmung
Das Brexit-Referendum war nicht demokratisch, kritisiert der Sozialwissenschaftler Alfred Moore auf dem Onlineportal OpenDemocracy:
„Eine Entscheidung dieser Tragweite verlangt nach einer klaren, starken und stabilen Mehrheit. Das Verfahren sollte angelegt sein, eine solche Mehrheit zu generieren, doch damit ist es gescheitert. Zum einen gab es keine klare Mehrheit. Hat wirklich das Vereinigte Königreich für den Brexit gestimmt? Es ist klar, dass England dies tat. Aber England ist nicht das Vereinigte Königreich. Dass England eine Verfassungsfrage für ganz Großbritannien entscheiden kann, ohne in allen betroffenen Ländern eine Mehrheit zu haben, ist aus demokratischer Sicht nicht akzeptabel. Es ist daher auch richtig, dass die Menschen Schottlands dies als nicht akzeptabel wahrnehmen. ... Dieses Referendum hat unseren Respekt nicht verdient.“
Basisdemokratie wird diskreditiert
Das Referendum wird von vielen jetzt als Argument benutzt werden, um demokratische Graswurzelbewegungen von vornherein schlecht zu machen, fürchtet Zeit Online:
„Alles, was von unten kommt, wird uns als Mob erscheinen. Die Eliten werden sich mehr denn je abschotten und zu schützen versuchen und Defensivpositionen einnehmen, anstatt konsequent die Fragen zu stellen und die Konfrontationen zu suchen, die es jetzt braucht - auch und gerade die Fragen an sich selbst. ... Während die Kluft zwischen arm und reich immer abgründiger wird, während die Ausbeutung und Zerstörung unserer Erde immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, während diejenigen, die sich verantwortungslos die Ressourcen unter den Nagel gerissen haben, ... nur noch sich selbst bedienen und sich selbst in Sicherheit bringen wollen, werden die 'einfachen' Bürgerinnen und Bürger, die die Missstände vor Ort erkennen und basisdemokratisch bekämpfen wollen, dem Misstrauen und der Marginalisierung preisgegeben.“
Ein Happy End ist noch möglich
Das letzte Wort in Sachen Brexit ist noch nicht gesprochen, glaubt die Financial Times und hofft, wie bei einer guten Fernsehserie, auf eine Fortsetzung des Dramas mit einer erneuten Abstimmung:
„Jeder langfristige Beobachter der EU sollte mit dem Schock eines Referendums vertraut sein. Im Jahr 1992 lehnten die Dänen den Vertrag von Maastricht ab. Die Iren stimmten 2001 gegen den Vertrag von Nizza und im Jahr 2008 gegen den Vertrag von Lissabon. Und was ist jeweils passiert? Das EU-Rad drehte sich einfach weiter. Den Dänen und Iren wurden von ihren EU-Partnern Zugeständnisse gemacht. Es gab ein zweites Referendum. Und beim zweiten Mal akzeptierten die Wähler die Verträge. ... Es gibt eine moderate Mitte in Großbritannien und Europa, die in der Lage sein sollte, ein Abkommen zu verhandeln, das Großbritanniens Verbleib in der EU ermöglicht. Wie bei allen guten Dramen war die Brexit-Geschichte schockierend, dramatisch und erschütternd. Aber das Ende steht noch nicht fest.“
Wiederholung durchaus möglich
Die negativen Folgen des EU-Austritts könnten die Briten dazu bringen, das Brexit-Referendum zu wiederholen, meint The Irish Independent:
„Wenn jene Briten, die für den EU-Austritt gestimmt haben, in den kommenden Monaten und Jahren einen Bericht nach dem anderen darüber lesen, dass Arbeitsplätze an Irland und an andere EU-Staaten verloren gehen, dann werden sie ihre Entscheidung möglicherweise überdenken. Wenn die Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation spürbar werden und sich einige der Versprechen der EU-Gegner als Unsinn erweisen, dann wird die bereits bestehende Initiative für eine Wiederholung des Referendums zusätzlichen Schwung gewinnen. ... In diesen unsicheren Zeiten kann nichts ausgeschlossen werden.“
Auch fatale Entscheidungen sind unumkehrbar
Allen Forderungen nach einem neuen Referendum erteilt Lidové noviny eine Absage:
„Was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das gilt leider auch für politische Aktionen, seien es nun Wahlen oder Volksabstimmungen. Gerade weil die Demokratie an Regeln gebunden ist, kann man jetzt nicht ein zweites Referendum ausrufen, auch wenn sich das Millionen Menschen auf den britischen Inseln wünschen. Man muss die Verzweifelten daran erinnern, dass einige unserer Entscheidungen fatal sind und sich auch im zweiten Anlauf nicht ändern lassen. Ein Referendum lässt sich nicht reklamieren wie ein nicht passendes Weihnachtsgeschenk. Und man kann es auch nicht über noch so laute Rufe in den sozialen Netzwerken erzwingen. Wenn wir optimistisch sind, dann sollten wir glauben, dass die Briten das schon alles hinkriegen werden. Wir übrigens werden daraus lernen.“
Volksabstimmungen riskantes Instrument
Volksabstimmungen verführen zu emotionalen Fehlentscheidungen, was man daran sieht, dass viele Briten ihr Brexit-Votum mittlerweile bereuen, schreibt Hürriyet Daily News:
„Ein Referendum ist eines der rückständigsten politischen Instrumente, bei dem eine Nation mit aufgeregten, kurzweiligen Gefühlen über ihre strategische Zukunft abstimmt. ... Cameron hat einen hohen Preis dafür gezahlt, nicht nur für sich, sondern auch für das Vereinigte Königreich, dass er die populistischen Herausforderungen seiner Rivalen, wie Boris Johnson und Nigel Farage, akzeptiert hat. Nun haben die Briten schon begonnen über ein weiteres Referendum zu reden. ... Mit oder ohne ein neues Referendum, ausgelöst durch den 'Bregret', sind die Steine ins Rollen gekommen und es scheint als würden sie nicht aufzuhalten sein, bis man in Europa neue politische Gleichgewichte gefunden hat. Unterm Strich sind Referenden ein riskantes politisches Instrument, besonders wenn es um strategische Fragen geht.“
Der langsame Tod einer großartigen Idee
Referenden über EU-Angelegenheiten werden sich häufen, weil die Politiker nicht in der Lage sind, selbst Entscheidungen zu treffen, bedauert das Portal Webcafé:
„Es war nur eine Frage der Zeit bis diese Union sich aufzulösen beginnt. Diese Union, deren Tag mit einem ausgedehnten Arbeitsfrühstück beginnt, in dessen Verlauf ein Komma aus einem Bericht in den anderen verschoben wird, und der damit endet, dass ein dringender 'Not'-Gipfel in zwei Wochen anberaumt wird. ... Die EU wird immer weniger als attraktive Gemeinschaft der Werte und Ideen gesehen und immer mehr als Gemeinschaft der Kompromisse und Deals. ... Wenn die politische Führung nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, werden es stattdessen die Wähler tun, angeführt von niederen nationalistischen Gefühlen, Hass und Misstrauen. Das ist der langsame Tod der ansonsten großartigen Idee eines gemeinsamen europäischen Zuhauses.“
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