Verzögert sich der Brexit?
Bis zum EU-Austritt Großbritanniens könnte es noch mehr als drei Jahre dauern. Davon gehen Vertreter aus Politik und Wirtschaft im Vereinigten Königreich laut Medienberichten aus. Dass sich der Abschied Londons so lange hinzieht, ist nach Ansicht von Kommentatoren kontraproduktiv.
Großbritannien muss EU schnell verlassen
Die EU sollte mehr Druck auf London ausüben, damit Großbritannien mit Blick auf den Brexit seinen Schlingerkurs aufgibt, fordert der Politologe Valentin Naumescu im Blogportal Contributors:
„Das politische Verhalten von Großbritannien gegenüber der EU ist unerträglich geworden. Nach dem Referendum vom 23. Juni hätten die Dinge geklärt und Entscheidungen getroffen werden müssen - zumindest auf politischer Führungsebene. ... Wenn der Brexit verantwortungsvoll von der EU verwaltet wird, werden keine weiteren Länder angesteckt. Im Gegenteil: Die Verfahrensweise würde andere entmutigen, gerade auch Volkswirtschaften, die schwächer sind als die britische. Das Königreich muss so schnell wie möglich die EU verlassen, ohne Bedingungen zu stellen. ... Jede Verzögerung könnte die EU weiter schwächen, die in den vergangenen Jahren angesichts der Krisen ohnehin anfällig geworden ist.“
Markt stellt sich auf Brexit ein
Es mag noch ein langer Weg sein bis zum Beginn der Brexit-Verhandlungen, doch der Markt stellt sich bereits auf den EU-Austritt Großbritanniens ein, beobachtet das Webportal Protagon:
„Der US-Hedge-Fonds-Marathon hat seine Investitionen in Immobilien in Irland, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland erhöht, da er davon ausgeht, dass diese Länder in den kommenden Jahren vom Weggang großer Unternehmen aus der Finanzstadt London profitieren werden. Der CEO des Fonds erklärt in der Financial Times, dass viele Arbeitsplätze im Bankensektor von London nach Paris und Frankfurt verlagert werden, weil die EU von ihnen einen Sitz in der Union verlangt, wenn sie ihre Kunden dort bedienen wollen. Die Fonds blieben vor dem Referendum besonders wegen der ungewissen Umfrageergebnisse abwartend, aber in letzter Zeit zeigen sie sich aggressiver. Andere Investoren sagen voraus, dass demnächst das Pfund unter Druck geraten wird.“
Brexit nicht weiter verschleppen
Auch Merkel, Hollande und Renzi haben auf ihrem Treffen am Dienstag keine klaren Worte zu den Folgen des Brexit-Referendums gefunden, kritisiert Politiken:
„Die EU ist weder die allumfassende Antwort auf die Probleme Großbritanniens noch auf jene der Rest-EU. Aber die Probleme, vor denen die Welt steht, erfordern eine internationale Zusammenarbeit. Flüchtlingskrise, Klimakrise, Wachstumskrise. Vermutlich in Erkenntnis dieser Sachlage versucht Theresa May, den Brexit zu verzögern. ... Aber wenn die Briten nicht bald die Konsequenzen aus ihrer eigenen Entscheidung ziehen, muss die EU helfen. Diese Botschaft hätten die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande passenderweise auf dem Treffen mit ihrem italienischen Kollegen Matteo Renzi auf der symbolträchtigen Insel Ventotene aussenden können. ... Aber die Frage, wie und wann der Brexit geschehen soll, schwebt weiterhin unbeantwortet über dem bewegten Mittelmeer.“
Wirtschaftlicher Schaden nur Frage der Zeit
Wenn britische EU-Gegner nun jubeln, dass die für den Fall des Brexit vorausgesagten "Horrorszenarien" nicht eingetreten sind, dann freuen sie sich zu früh, warnt Wirtschaftswissenschafter Simon Wren-Lewis im Independent:
„Der wahre, vom Brexit verursachte Schaden wird mittel- und langfristig eintreten. Er ist Folge der simplen Tatsache, dass es negative Auswirkungen auf das Wachstum hat, wenn der Handel mit unseren Nachbarn erschwert wird. Je nach Studie und je nachdem, von welcher Form des Brexit man ausgeht, ist der prognostizierte Schaden unterschiedlich hoch. Doch in den meisten Fällen rechnet man mit großen und dauerhaften Auswirkungen. Wie groß sie sind, wird erst in einigen Jahren klar sein. Ökonomen behaupteten zudem, dass es deutlich zu spürende kurzfristige Störungen geben werde, weil unklar sei, was genau nach dem EU-Austritt kommt. Wie groß diese kurzfristigen Auswirkungen sein werden, ist kaum abzuschätzen, doch sie sind weniger bedeutend als die langfristigen Folgen.“
London muss sich zu Europa bekennen
Die britische Regierung wird in den Brexit-Verhandlungen mit der EU nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich mehr denn je pro-europäisch präsentiert, meint der Guardian:
„Die Gespräche in Brüssel, Berlin, Paris und Warschau dürfen sich nicht nur um die Abschaffung von Zolltarifen drehen. Es müssen Versprechen dazugehören, sich bei kontinentalen Herausforderungen einzubringen, wie IS-inspiriertem Terrorismus, russischen Expansionsbestrebungen und Energiesicherheit. Die Frage ist nicht, ob es uns gelingt, ein dünnes Faksimile der EU-Mitgliedschaft zusammenzuschustern, sondern wie Großbritannien nach dem Brexit ein aufrechter Freund und Nachbar der EU sein kann. Nur so wird es am Ende eine gute Übereinkunft geben. ... Der EU-Austritt wird eine Diplomatie erfordern, die ebenso leidenschaftlich und eindeutig pro-europäisch ist wie jene, die für den Beitritt nötig war.“
Teure Brexit-Bürokratie wird Briten erzürnen
Großbritanniens neue Regierung baut jetzt eine milliardenschwere Brexit-Bürokratie auf, beobachtet The Times. Dies werde insbesondere jene Bürger empören, die für den Brexit stimmten:
„Die Brexit-Befürworter in der Regierung, die über die übermächtige Brüsseler Maschinerie schimpften, stehen jetzt einer Bürokratie vor, die sich rasant ausbreitet, Milliarden kostet und die Wähler noch weiter entfremden wird. ... Eine ganze Brexit-Industrie schießt derzeit aus dem Boden. Die britische Regierung ist bereit, bis zu 5.000 britische Pfund pro Tag für Juristen und 1.000 Pfund für Management-Berater auszugeben. Eingeweihte schätzen, dass allein die zusätzlich zu zahlenden Gehälter in den kommenden zehn Jahren mindestens fünf Milliarden Pfund ausmachen werden. ... Das wird bei den 'Chancenlosen' unter den Wählern, die für den Brexit stimmten, weil sie wütend auf die aus ihrer Sicht wohlhabende Elite waren, gar nicht gut ankommen. “
Noch ist England nicht verloren
Dass der Brexit für Großbritannien katastrophal wird, wie Anhänger des Remain-Lagers behaupten, ist für die Tageszeitung Die Welt noch längst nicht ausgemacht:
„Die Mehrzahl der Diskutanten sehen nichts Gutes auf ihr Land zukommen. ... Solche Untergangsprophetien sind wohlfeil, widersprechen aber den Indizien der britischen Gegenwart und Vergangenheit. ... Immer schon hat England auf eigene Rechnung das historische Steuer herumgeworfen und ist die daraus entstehenden Risiken mit großer Kaltblütigkeit eingegangen. ... Das tief enttäuschte 'Remain'-Lager will von historischen Analogien nichts wissen, sondern beharrt auf der Prophetie vom Niedergang des eigenen Landes. Die Geschichte, so steht zu hoffen, wird ein anderes Urteil fällen, auch wenn große Ungewissheit auf der Gegenwart lastet. Noch ist England nicht verloren.“
Tatenlose Brexit-Minister
Die drei für den Brexit zuständigen Mitglieder der britischen Regierung - allesamt EU-Kritiker - enttäuschen bislang bei der praktischen Umsetzung des Austrittsprozedere, klagt The Independent:
„Eine Menge Arbeit ist zu erledigen, und dafür braucht es Führungsstärke. ... Doch bisher scheint es bemerkenswert wenig Fortschritt in der Frage gegeben zu haben, wie die britische Wirtschaft künftig aussehen soll. Abgesehen von ein bisschen diplomatischem Herumgereise einiger Minister gibt es offenbar kaum produktive Tätigkeiten. Und dass in einem Zeitraum, der entscheidend ist - nur wenige Monate vor der erwarteten Aktivierung von Artikel 50 der EU-Verträge. ... Darüber hinaus ist noch immer völlig unklar, wie der Zaubertrick funktionieren soll, der uns Zugang zum Binnenmarkt ermöglicht und gleichzeitig die Zuwanderung aus der EU beschränkt. Das Brexit-Projekt, das zu keinem Zeitpunkt verlockend wirkte, hat entmutigend begonnen.“
Verhandlungen zeigen Brüssels Schwäche
Die Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens kommen nicht richtig in Schwung und außerdem zur Unzeit, konstatiert die Tageszeitung La Stampa:
„Der Brexit zeigt die institutionellen Grenzen der EU in Notsituationen auf. Berlin und andere Hauptstädte haben klar gemacht, dass in der Verhandlung mit dem Vereinigten Königreich der Rat (also die nationalen Regierungen) Vorrang vor der Kommission hat. … Europa igelt sich folglich weiter ein, während in den USA eine neue Regierung antritt, Putins Russland die Welt weiter herausfordert, der Nahe Osten brennt, Afrika wächst, China, Indien und der Pazifik zwischen Wohlstand und Spannungen treiben. Warum musste der Brexit-Entscheid ausgerechnet jetzt kommen? Die Historiker werden Mühe haben, dies kommenden Generationen zu erklären.“