Merkels Diplomatie-Marathon
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich mit den Regierungschefs von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei getroffen. Zuvor hatte sie zur Vorbereitung des EU-Gipfels Mitte September Italien, Estland und Tschechien besucht. Die Kanzlerin führt den Dialog mit ihren größten Kritikern innerhalb der Union, loben einige Kommentatoren. Andere finden die Europa-Tour der Kanzlerin anmaßend.
EU will vorerst nicht über Flüchtlinge reden
Brüssel und die ostmitteleuropäischen Staaten haben die Flüchtlingsfrage vorerst ungelöst zu den Akten gelegt, analysiert Polityka:
„In der Flüchtlingskrise lässt sich derzeit kein gemeinsamer Standpunkt herausarbeiten. Und das, obwohl es bereits mehrere Gespräche gegeben hat. Die Visegrád-Staaten lehnen es ab, dass die Flüchtlingskrise zentral von Brüssel aus gesteuert wird. ... Die Empfehlungen aus Brüssel haben das Gegenteil bewirkt: Die ostmitteleuropäischen Ländern haben sich nur noch mehr gegenüber den Einwanderern abgeschottet. Solange der Vertrag mit der Türkei noch bindend ist und keine solch hohe Zahl an Migranten wie vor einem Jahr in die EU kommt, liegt der Konflikt erst einmal auf Eis. Doch der Streit dürfte irgendwann zurückkehren.“
Merkel kommandiert nicht, sondern hört zu
Mit ihrer Tour durch Europa bekräftigt Merkel, dass es in der EU vor allem um Dialog geht, lobt Die Welt:
„Angela Merkel scheint inzwischen verstanden zu haben, dass da mit business as usual nicht viel zu bewegen sein wird. Durch Beschlüsse, die die Großen nachts um halb vier Uhr in Brüsseler Besprechungszimmern treffen, ist Europa nicht zu retten. Deswegen war es richtig, dass sich Angela Merkel für ein kleineres Format entschieden hat, ein Redeformat. Sie weicht nicht aus, sondern tingelt durch Europa - nicht als Kommandeuse, sondern als Zuhörerin, die viel Kritik über sich ergehen lassen muss. Dass sie diese Tour gemacht hat, ist ein erster guter Schritt. Die EU ist nicht 'Brüssel', sondern die Gesamtheit ihrer Mitgliedstaaten, auch derer, die ausscheren. Dem hat die Bundeskanzlerin ihre Reverenz erwiesen. Sie bekräftigt damit einen der größten Vorzüge der EU: dass sie zwar auch ein Machtgebilde, vor allem aber eine Rede- und Verhandlungsgemeinschaft ist.“
Kanzlerin drängt Brüssel ins Abseits
Angela Merkel maßt sich mit ihren Vorgesprächen zum EU-Gipfel eine Rolle an, die ihr nicht zusteht, schimpft der Politikwissenschaftler Sergio Fabbrini in der Il Sole 24 Ore:
„De facto werden in der EU strategisch wichtige politische Entscheidungen von der Regierungschefin des größten Landes der Union, Kanzlerin Angela Merkel, gesteuert. Eine besorgniserregende Entwicklung. Nicht nur, weil Merkel ausschließlich von der Verfassung ihres eigenen Landes legitimiert ist, sondern auch, weil dies unvermeidbar zur Aushöhlung der gemeinschaftlichen Institutionen und Entscheidungsprozesse führt. … Merkel hat das Zentrum der Entscheidungen nach Berlin verlegt und damit Brüssel ins Abseits gedrängt.“
Kanzlerin wird Warschau nicht kritisieren
Kritische Töne der deutschen Bundeskanzlerin gegenüber der polnischen PiS-Regierung sind auch bei ihrem Besuch in Warschau am heutigen Freitag nicht zu erwarten, erläutert Gazeta Wyborcza:
„Die Abgeordneten der Opposition und die Anhänger von [der Anti-PiS-Bürgerbewegung] Kod wundern sich seit Monaten, dass aus Berlin keine Warnungen kommen und es keinen Protest gegeben hat. Einige deutsche Politiker haben sich zwar zunächst zur Lähmung des Verfassungsgerichts geäußert. Doch nun herrscht Ruhe. ... Warum? Weil alles, was derzeit in Polen passiert, den Deutschen nützt. Man muss nur aufhören darauf zu schauen, was die polnischen Politiker sagen. Vielmehr muss man bewerten, was sie tun. Und das spielt deutschen Interessen in die Hände. ... So ist das Flaggschiff der Regierung - das Kindergeld - für die deutsche Wirtschaft von Vorteil, weil damit der Konsum in Polen angekurbelt wird und somit auch der Import aus Deutschland - wie von Gebrauchtwagen oder Lebensmitteln.“
Gut, dass Prag nicht eingeknickt ist
Angela Merkel stieß bei ihrem Besuch am Donnerstag in Prag bei den Gegnern ihrer Flüchtlingspolitik auf Protest. Verständlich, findet Echo24:
„Ähnliche Proteste gab es in Tallinn. In Ungarn will die Regierung Orbán im Herbst gar ein Referendum über die Flüchtlingsquoten abhalten. ... Der Hauptgrund dafür liegt in der Arroganz, mit der Deutschland im vergangenen Jahr durch die EU-Innenminister die Quote für die Verteilung von 160.000 Asylbewerbern in Griechenland und Italien durchsetzen ließ. Dabei ist Merkel fast die einzige im politischen Berlin, die noch so etwas wie Rücksicht auf die östlichen Nachbarn Deutschlands nimmt. ... Es war in jedem Fall gut, dass der gemeinhin nicht sehr kämpferische Premier Bohuslav Sobotka in Anwesenheit der Kanzlerin deutlich sagte, dass Prag nicht nur mit den Quoten nicht einverstanden ist, sondern - was noch wichtiger ist - auch nicht mit der Verschiebung weiterer Kompetenzen der Asylpolitik nach Brüssel.“
Osten will sich Integrationsprobleme ersparen
Wenn sich die osteuropäischen Staaten dagegen sperren, Flüchtlinge aufzunehmen, haben sie Westeuropa dabei genau im Blick, meint ABC:
„Sie sehen die Probleme anderer europäischer Länder und wollen sie nicht importieren. ... Merkel musste erkennen, dass sich ein Großteil Europas weigert, Einwanderer aufzunehmen, die keinen Integrationswillen zeigen und deren Werte nicht in eine demokratische Gesellschaft passen. ... Im Westen weht ein anderer Wind: Die Anhänger einer multikulturellen Gesellschaft haben sich mobilisiert. ... Da haben wir sie, diese Linke, die sich über Kreuze in Klassenzimmern aufregt und diese so genannten moderaten Moslems, die es nicht schaffen, gegen die Gemetzel ihrer radikalen Glaubensbrüder zu protestieren. ... Westeuropas politisch korrekte Medienmaschinerie walzt über Frankreichs erste Reaktion auf die Invasion repressiver Symbole. In Osteuropa sind sie entschlossen, sich dieses Schicksal zu ersparen, aus nationalem Überlebenswillen.“
Positives Europa-Narrativ nötig
Sollte in naher Zukunft lediglich um die aktuellen Krisen gestritten werden, würden sich die Bürger noch mehr von Europa entfremden, warnt die Irish Times mit Blick auf die Europareise von Bundeskanzlerin Merkel:
„Würdige politische Initiativen sind zu begrüßen, wenn es sich dabei nicht nur um schöne Worte handelt. In den kommenden zwei Jahren besteht die Gefahr, dass die EU in einer Innenschau verharrt, weil sie sich in erster Linie mit den Details und zweifellos harten Auseinandersetzungen rund um die Brexit-Verhandlungen beschäftigt. Dabei wäre sie unfähig, dem Pessimismus und der Skepsis unter den Wählern entgegenzuwirken, die durch die Brexit-Debatte genährt wurden. Die politischen Führer der EU müssen vor allem ein neues großes Ganzes entwerfen und artikulieren, eine Erzählung auf der Metaebene, eine neue 'Bedeutung' oder 'Vision', die über die aktuellen Krisen durch Zuwanderung, Terrorismus, Euro oder Brexit hinausgehen.“
Musterschüler Estland soll voranschreiten
Wodurch Merkels Besuch in Tallinn am Mittwoch und Donnerstag motiviert war, eklärt Õhtuleht:
„Nicht nur die Tatsache, dass Estland schon im nächsten Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen und damit den Löffel in der Brexit-Suppe rühren wird, ist Grund für den Besuch. Estland soll als einer der europäischen Musterschüler den anderen osteuropäischen Mitgliedern, die gegenüber Merkels Politik widerspenstig sind, in Wort und Tat ein Vorbild sein. Zudem ist Estland ein ganz normaler Gesprächspartner in Sicherheitsfragen. So wurde auch diesmal die Fortsetzung der Sanktionen gegen Russland besprochen. Außerdem ist der Besuch von Merkel in Tallinn ein Signal an all jene, die Tallinn als 'Vorort St Petersburgs' betrachten. Ähnlich wie auch US-Vizepräsident Joe Biden in Riga den baltischen Staatsoberhäuptern zu verstehen gegeben hat, dass die Nato ihre Versprechen nicht brechen wird.“
"Frau Europa" hält Tschechen den Spiegel vor
Der heutige Besuch von Angela Merkel in Prag gibt den Tschechen die Chance, sich klarer über sich selbst zu werden, meint Hospodářské noviny:
„Die mächtigste Frau der Welt in Gestalt der deutschen Kanzlerin kommt diesmal nicht, um zu bestätigen, dass die tschechisch-deutschen Beziehungen die besten aller Zeiten sind. Sie kommt, um Tschechiens politische Repräsentanten zu fragen, inwieweit sie sich noch traditionell europäisch fühlen. ... Die Antwort, die Frau Merkel in Prag bekommt, hat keine durchschlagende Bedeutung, weder für die EU, noch für Deutschland. Sie wird allerdings entscheidend sein für das künftige Leben der tschechischen Gesellschaft. 'Frau Europa' könnte uns helfen, die Kant'sche Frage klar zu beantworten: Woher wir kommen, wissen wir mehr oder weniger. Wer wir sind und wohin wir gehen, das können wir hingegen nicht wirklich sagen. Vielleicht hilft uns der große Spiegel, den uns Merkel in Prag vorhält, eine sinnvolle Antwort zu finden.“
Merkel hat Großbritannien abgeschrieben
Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Europa-Tour augenscheinlich Großbritannien ignoriert, findet NRC Handelsblad bedenklich:
„Faktisch spielt die deutsche Bundeskanzlerin, auch weil die Briten wegfallen und Hollande schwach ist, stärker als je zuvor die Rolle der inoffiziellen europäischen Führerin. Mit Unterstützung der übrigen EU-Mitgliedstaaten übergeht Merkel bei allen Konsultationen demonstrativ die britische Premierministerin Theresa May. Das kann man als Signal dafür auffassen, dass das Vereinigte Königreich bereits ins Abseits gestellt wurde. Hat man die europäische Idee vor Augen, ist dies verständlich. Aber mit Blick auf die zukünftige Zusammenarbeit, die nicht nur wirtschaftlich sondern auch sozial und militärisch von hoher Bedeutung ist, ist das nicht klug.“
Kanzlerin sollte ihren Kurs erklären
Die Bundeskanzlerin hat sich ihr schlechtes Image in Tschechien selbst zuzuschreiben, kritisiert die Wochenzeitung Respekt:
„Etwa damit, dass sie erst jetzt zu Besuch nach Prag kommt. Zweifellos ist sie sehr eingespannt. Wenn sie aber in der Flüchtlingskrise nach einer komplizierten 'europäischen' Lösung sucht, dann hätte sie der Kommunikation mit dem übrigen Europa mehr Energie widmen müssen. Und das nicht nur der Kommunikation mit den Politikern, sondern auch mit der Öffentlichkeit dort. Sie hätte beispielsweise dem tschechischen Fernsehen ein längeres Interview geben können. Dabei hätte sie der tschechischen Öffentlichkeit ihren Kurs erklären können. Das hätte den Politikern bei uns den Wind aus den Segeln genommen, die über sie Halbwahrheiten und Lügen verbreiten.“
Tschechen behandeln Merkel ungerecht
Merkel ist zu Unrecht zum Feind Tschechiens hochstilisiert worden, verteidigt Hospodářské noviny die Kanzlerin:
„Dieser Widerstand ist unbegreiflich. Welcher andere deutsche Politiker könnte in der Kanzler-Rolle ein besserer Partner für uns sein? Dabei geht es nicht darum, dass sie Schnitzel und Bier in unseren Kneipen auf Tschechisch bestellen kann. Den Tschechen ist Merkels Empathie für die kleinen europäischen Länder gleichgültig, sie beleidigen sie regelrecht wegen ihres Flüchtlingskurses. ... Leute wie [Ex-Präsident] Václav Klaus, die die AfD unterstützen, sollten sich fragen, wann jemals in der Geschichte von deutschen Nationalisten Gutes für die Tschechen herauskam. Wir müssen mit Merkel nicht einig sein. Aber sie auszupfeifen und sich ihren Fall zu wünschen, hilft entschieden nicht weiter.“