Rettet der Gipfel in Bratislava die EU?
Die EU-Staats- und Regierungschefs haben beim Gipfel in Bratislava beschlossen, den EU-Grenz- und Küstenschutz zu verstärken und den Flüchtlingspakt mit der Türkei umzusetzen. Auch die Schaffung neuer Jobs wollen die EU-Staaten vorantreiben. Der große Wurf zur Rettung der EU blieb mal wieder aus, sind einige Journalisten enttäuscht. Andere freuen sich über die Ergebnisse.
Europas Politiker verschlimmern Vertrauenskrise
Bratislava war mal wieder ein Gipfel zum Haareraufen, klagt der frühere belgische Premier und liberale EU-Abgeordnete Guy Verhofstadt in L'Opinion:
„Selbst ohne sein britisches Mitglied, dessen Ruf alles andere als tadellos ist, dreht sich der Europäische Rat also weiterhin im Kreis. Genau diese machtlose Runde lässt die Europäer im gelähmten Europa verzweifeln. Wie oft werden die Mitgliedsstaaten die große Reform noch aufschieben, die die Gemeinschaft braucht, um ihrer Verantwortung vollständig gerecht zu werden und um auf Forderungen der Bürger einzugehen? … Eine paneuropäische Demokratie wäre kein Feind der nationalen Demokratien, ebenso wenig wären effiziente supranationale Institutionen Gegner der nationalen Regierungen. Aufgrund ihres Widerwillens, die europäische Integration voranzutreiben und ihres Zögerns, ihre Souveränität in entscheidenden Bereichen zu teilen, vergrößern die europäischen Regierenden die Vertrauenskrise, die das gesamte politische und wirtschaftliche System betrifft.“
EU bleibt im künstlichen Koma
Italiens Premier Renzi hat den EU-Gipfel als substanzlos kritisiert. Recht hat er, findet Roberto Sommella in L'Huffington Post:
„Europa ist im Koma, zwar in einem künstlichen, doch das ändert nichts an der Tatsache. Die sechs mickrigen Seiten der Abschlusserklärung von Bratislava sprechen Bände. Übliche formelle Achtsamkeit, besondere Betonung auf die Verteidigung der Grenzen und den Kampf gegen den Terrorismus. Von einem Migrationspakt oder neuen Plänen für die Wirtschaft kein Wort. ... Die Union, die aus dem Gipfel hervorgeht, ist in drei Blöcke geteilt: Den Euroraum, die EU der 27 ohne Großbritannien und die Visegrád-Gruppe mit den vier Ländern des Ostens (Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei), die eine hübsche Mauer gegen die Migranten fordern, was - fürchte ich - auch viele andere Länder wollen. Doch der stärkste Bruch betrifft das Führungstrio Frankreich-Deutschland-Italien, das nicht einmal einen Monat nach Ventotene auseinander bricht.“
Gipfel erreicht vernünftige Balance
In der Flüchtlingsfrage sind die EU-Staats und Regierungschefs auf ihrem Gipfel in Bratislava zu einer pragmatischen Übereinkunft gekommen, urteilt Dnevnik:
„Die Visegrád-Staaten wollten, dass die EU die Quotenregelung aufgibt. ... Nach einer nüchternen und pragmatischen Analyse zeigte sich aber, dass ihre Position nicht durchzuhalten ist, weshalb sie abgelehnt wurde. Letztendlich hat man eine vernünftige Balance gefunden. Erstens, die stärkere Sicherung der Außengrenzen, um illegale Grenzübertritte zu reduzieren. Zweitens, die Unterstützung für das Abkommen mit der Türkei, das trotz aller Kritik den Flüchtlingsandrang im Vergleich zum Vorjahr um die Hälfte vermindert hat. Drittens, die gesamteuropäische Herangehensweise, wonach die Sicherung der Außengrenzen ansatzweise zu einer gemeinsamen Aufgabe wird. Im Gegensatz zur Position der Visegrád-Staaten berücksichtigt diese Balance die Situation von Ländern wie Griechenland, Italien und Bulgarien, die ohne diese Maßnahmen sehr bald vor Problemen gestanden hätten, bei denen auch Grenzzäune nicht mehr helfen.“
Politiker hören Europäern endlich zu
Dass die Vertreter der Staaten und der EU in Bratislava endlich die Ärmel hochkrempeln und ihre Differenzen überwinden, hofft Kristeligt Dagblad inständig:
„Alles deutet darauf hin, dass die EU-Elite die Probleme verstanden hat. In wesentlichen Bereichen soll die EU stärker werden, aber gleichzeitig auch in anderen weniger Einfluss haben. Auch wenn viele Politiker der Mode verfallen sind, ihre EU-Skepsis oder ihren ausdrücklichen Widerstand zum Ausdruck zu bringen, braucht die Union alle denkbare politische Unterstützung und auch die der Bürger. Ein Europa, in dem die Länder nicht zusammenarbeiten, ist unvorstellbar. Es gibt keine Alternative zu genau dieser Europäischen Union. Man muss sich darüber freuen, dass die Politiker nun den europäischen Bevölkerungen zuhören.“
Union braucht vor allem guten Willen
Es wird nicht einfach sein, die verschiedenen Interessen innerhalb der EU miteinander zu versöhnen, ist Sydsvenskan skeptisch:
„Regalmeter von Verträgen, Direktiven und Verordnungen regeln die Zusammenarbeit in der EU. Aber was nutzen Regeln und Abkommen, wenn niemand sie befolgt? Die Zusammenarbeit innerhalb der EU kann nicht über Regeln geschaffen werden. Sie baut auf den guten Willen, auf die Bereitschaft, ziemlich oft das gemeinsame Wohl vor die widersprüchlichen nationalen Interessen zu stellen. Ohne diesen guten Willen kann die EU nicht funktionieren. Ist genügend von diesem guten Willen vorhanden, um die Spirale der Unzufriedenheit mit der EU zu durchbrechen? Die Antwort kann in Bratislava gegeben werden.“
Runter vom Gas bei der Integration
Wenn die EU an etwas krankt, wird reflexartig eine weitere Integration als Medizin verschrieben, kritisiert Dennik N und fordert ein Umdenken:
„Wenn Ihr Auto ein Problem mit dem Motor, der Kraftstoffleitung, der Zündung, dem Getriebe oder den Bremsen hat, weil es eilig und mit defekten Teilen zusammengeschustert wurde, hilft es nicht, mehr aufs Gaspedal zu treten. Da hilft nur, anzuhalten, das Auto zu reparieren und die fehlerhaften Teile auszuwechseln. Der Gipfel in Bratislava und die Monate danach werden zeigen, ob die Führer der Union ihren tief sitzenden Reflex ablegen können, jedes Problem bei der Integration mit mehr Integration auszuräumen. Die jüngste Rede des Chefs der EU-Kommission, Juncker, machte da aber wenig Hoffnung. Er hat zwar die Probleme erkannt, sieht aber als Lösung für sie nur die weitere Stärkung Brüssels. Um beim Auto zu bleiben - mit solchen Fahrern zerfällt der Wagen lange, bevor er am Ziel ist. “
Ausschluss der Briten inakzeptabel
Dass Großbritannien nicht zum Gipfel eingeladen wurde, zeigt, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Land für die Brexit-Entscheidung bestrafen will, schimpft The Times:
„Die Scheidungspapiere sind noch nicht unterzeichnet. Großbritannien ist immer noch ein gleichberechtigtes Mitglied der EU, und die Premierministerin sollte im Rittersaal der Burg von Bratislava anwesend sein. Die Absichten von Jean-Claude Juncker sind nur allzu offensichtlich geworden. Er möchte einen Sperrgürtel zwischen Großbritannien und den verbliebenen Mitgliedstaaten errichten. In seiner jährlichen Rede zur Lage der Union erklärte Juncker, dass er Großbritanniens Entscheidung auszutreten 'respektiere, aber bedauere'. Seine Taten lassen kaum ein Bedauern erkennen. Er wird erst dann zufrieden sein, wenn Großbritannien bestraft sein und den Status eines Geächteten bekommen haben wird.“