Wer ist schuld an der Krise der EU?
In seiner Rede zur Lage der Union hat Kommissionschef Juncker am Mittwoch mangelnde Solidarität unter den Nationalstaaten beklagt. Die EU befinde sich nach dem Brexit-Votum in einer „existenziellen Krise“, sagte er vor dem Europaparlament in Straßburg. Auch einige Journalisten sehen die Schuld für den desolaten Zustand bei den Einzelstaaten. Andere werfen Juncker vor, die Verantwortung anderen in die Schuhe zu schieben.
Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung
Juncker hat den schlechten Zustand der EU offen angesprochen, lobt Jyllands-Posten:
„Die aktuelle Situation hat aufgedeckt, was gleichzeitig die Stärke und die Schwäche der EU ist. Dass die EU zusammen nicht stärker ist, wenn die Nationalstaaten sich nicht einig sind. Viele sind der Meinung, dass die Lösung der Flüchtlingskrise nicht bei den einzelnen Mitgliedsländern liegt, aber es fällt schwer, sich darauf zu einigen, welche Kompetenzen der EU überlassen werden sollen. Viele sind sich auch einig, dass der Ausbau eines gut funktionierenden Binnenmarktes der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Konkurrenzkraft hilft, aber die Freizügigkeit, die der Binnenmarkt beinhaltet, ist in vielen EU-Ländern ein umstrittenes Thema. .... Juncker hat sich zur Krise bekannt. Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung dafür, eine Lösung zu finden.“
Juncker blendet eigene Fehler aus
Dass Juncker die Verantwortung für den jämmerlichen Zustand der EU den einzelnen Staaten zuschiebt, ist der Frankfurter Rundschau zu wenig:
„Wer erwartet hat, dass Juncker eigene Fehler oder die der Kommission benennt, statt auf andere zu zeigen, der wurde enttäuscht. Viel wichtiger wäre ohnehin gewesen zu sagen, für was die EU künftig stehen soll. Er hätte also sagen können, die Kommission habe in der Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahren zu wenig auf einen Ausgleich innerhalb Europas geachtet, weshalb die EU nun die Währungsunion weiterentwickeln wolle. Juncker skizzierte auch keinen Ausweg aus der Flüchtlingskrise. Stattdessen schob er den Schwarzen Peter den einzelnen Staaten zu. Auch mit denen und nicht ohne sie muss er künftig Lösungen erarbeiten. Was nicht ist, kann aber noch werden.“
Nur starke Nationalstaaten können EU stützen
Zuerst müssen die Nationalstaaten wieder das Vertrauen ihrer Wähler zurückgewinnen, dann kann man an die europäische Ebene denken, erklärt De Tijd:
„Einerseits wird der EU Ohnmacht vorgeworfen, etwa wenn es um Entscheidungen zur Migrationsfrage geht. Andererseits kritisiert man die EU als Superstaat, der undemokratisch Macht an sich reißt. ... Daher muss die Antwort auf diese widersprüchliche Kritik auch widersprüchlich sein. Die Europäische Union muss in den nationalen Parlamenten der EU-Staaten das Vertrauen zurückgewinnen. Von dort aus muss man versuchen, hier und da Resultate zu verbuchen und Legitimität zu gewinnen. Das wird nur gelingen, wenn man pragmatisch entscheidet, wo politischer Konsens und Fortschritt möglich sind und wo nicht. Die Migrationspolitik kann erst dann wieder wirklich in Gang kommen, wenn man einen Schritt zurück macht und jedes Land freiwillig entscheiden kann, wie viele Asylsuchende es aufnehmen will. Das könnte eine europäische Politik vielleicht wieder in Schwung bringen.“
Union zerstrittener denn je
Wenig Hoffnung, dass die Europäische Union in den großen Fragen auf einen gemeinsamen Nenner kommt, hat Naftemporiki:
„Die EU-Mitglieder entschieden auf den vorangegangenen Gipfeltreffen, dass die heutigen Herausforderungen gemeinsame Maßnahmen und einheitliche Lösungen erfordern - von der Flüchtlingskrise bis hin zur finanziellen Stabilität und der Bekämpfung von Terrorismus und Steuerhinterziehung. ... In der Praxis geht alles in die entgegengesetzte Richtung. Zäune werden errichtet, das Schengen-Abkommen wird de facto abgeschafft. Im Kampf gegen den Terrorismus hört man zwar von einer stärkeren Zusammenarbeit und einem Austausch von Informationen - Europol meint jedoch, dass nicht viel geschehen ist. ... Es gibt nicht viel Spielraum, um wichtige Schritte für die Union zu entscheiden. Die Regierungen sollten im Auge behalten, was Juncker betonte: Die Geschichte wird sich nicht ihre Namen merken. Sie wird sich an ihre Entschlossenheit oder ihre Fehler erinnern.“
Europa nach wie vor gebeutelt
Um Europa ist es in diesem Sommer 2016 nicht besonders gut bestellt, bestätigt der linke Politiker und Ex-Premier Leszek Miller in einem Gastbeitrag für Super Express:
„Nach den vergangenen zwölf Monaten ist es schwer, jetzt noch optimistisch zu sein. Die Briten werden den Einflussbereich Brüssels verlassen. Migrations- und Wirtschaftskrise befinden sich in einer Phase der Stagnation, ohne dass es eine Lösung gibt. Frustrationen und Zukunftsängste der Bürger nehmen zu. Und die Terroranschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland haben die ganze Schwäche der Sicherheitssysteme der Länder und der EU offengelegt. Immerhin gibt es auch ein paar positive Entwicklungen. Das BIP [der EU] ist etwas gestiegen, die griechische Wirtschaft besteht fort und die Stimmen, die sagen, die Eurozone breche auseinander, sind leiser geworden.“
Kommission steht mit peinlich leeren Händen da
Nach fast zwei Jahren im Amt kann Juncker keine gute Bilanz vorweisen, meint NRC Handelsblad und fürchtet, dass die Kritik an ihm nicht abreißen wird:
„Sein wichtigstes Ziel, eine Perspektive für Europa zu entwickeln, hat er kaum erreicht. In der Flüchtlingskrise wollte die Kommission eine Hauptrolle spielen, aber das ließen die Mitgliedsstaaten nicht zu. Auch in Sachen Griechenland konnte Juncker die Initiative nicht an sich reißen. Das Ergebnis nach zwei Jahren: Eine Kommission, die in den Hauptfragen wenig Einfluss hat. Eine EU-Leitung mit peinlich leeren Händen. ... [Auch wenn es durchaus Erfolge gibt], muss der 61-jährige Luxemburger doch vor allem Kritik einstecken. Die Kommission ist immer schon ein beliebter Punchingball für nationale Politiker, die selbst nicht weiter wissen. Und seit dem Brexit gibt es von dieser Sorte noch mehr.“
Immer noch zu wenig Europa und zu wenig Union
Eigentlich eine Nummer zu groß für den EU-Kommissionspräsidenten ist das Format der Rede zur Lage der Union nach Ansicht des Tages-Anzeigers:
„Vorbild war vor einiger Zeit die jährliche Speech des US-Präsidenten zur Lage der Nation. Ein EU-Kommissionschef hat allerdings nur einen Bruchteil der Macht eines amerikanischen Staatsoberhaupts. Und zudem spielt in der EU die Musik immer mehr in den Mitgliedsstaaten. ... Das ist auch Juncker schmerzlich bewusst. ... Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist auf der Kippe, die Zentrifugalkräfte in der EU haben eher noch zugenommen. Es gebe zu wenig Europa und zu wenig Union in der Europäischen Union, sagte Juncker vor einem Jahr. Den Satz könnte er heute auch wiederholen.“
EU als politisches Projekt weiterbauen
Will die EU ihr Fortbestehen sichern, sollte sie an begonnenen Projekten weiterarbeiten, rät schließlich Les Echos:
„Die Organisation der Flüchtlingsaufnahme sollte vorangetrieben werden. Der Juncker-Plan zur Investitionsförderung, dessen Erfolge trotz Bekundungen des Gegenteils noch kaum merkbar sind, braucht mehr Dynamik. Die Grenzen Europas sollten gestärkt und der Informationsaustausch zwischen Justizbehörden und Polizei im Schengenraum beschleunigt werden, wie es anfangs vorgesehen war, jedoch nie umgesetzt wurde. Das Erasmus-Programm, Aushängeschild Europas in der öffentlichen Meinung, wartet auf eine Demokratisierung. Die 'Garantie für die Jugend', die für alle jungen Menschen ein Job- oder Ausbildungsangebot vorsieht, sollte Realität werden. Nichts ist einfach. Aber alles bleibt möglich. Vorausgesetzt, Europa soll als politisches Projekt weitergebaut werden und mehr sein als nur das Trittbrett für einen Posten bei einer US-Geschäftsbank.“