Kann London einen harten Brexit durchziehen?
Das britische Finanzministerium warnt in einem geleakten Dokument vor volkswirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe durch einen harten Brexit. Dennoch hat Premierministerin Theresa May in der vergangenen Woche einen schroffen Bruch mit der EU angekündigt. Kommentatoren diskutieren dessen Folgen und halten einen Kurswechsel Großbritanniens für möglich.
Der Brexit kommt eh nicht
Dass der Brexit den Briten schadet, gilt als gesichert – und deswegen wird er auch nicht geschehen, mutmaßt Paulo de Almeida Sande und schreibt in Observador:
„Ich habe schon mehr an den Brexit geglaubt. Heute riskiere ich zu sagen, dass Großbritannien die EU nicht verlassen wird. Sollte dies doch geschehen, dann werden die Bedingungen für Großbritannien zweifellos weitgehend ungünstig sein. ... Die Abwertung des Pfunds ist nur ein Symptom - und das zu einer Zeit, da der Brexit noch gar nicht über die Bühne gelaufen ist. Was dann genau passieren würde, ist mit einem großen Fragezeichen versehen, niemand weiß es. ... Großbritannien hat sich davon gemacht und befindet sich bereits auf halbem Weg – auf einem Pfad ins Ungewisse. ... Doch es ist noch nicht zu spät, um zum spannendsten, gewagtesten und humanistischsten politischen Projekt zurückzukehren, dass der Mensch sich je erdacht hat.“
Noch kann London den Kurs ändern
Um einen ökonomischen Absturz zu verhindern, sollte sich Großbritannien bemühen, wirtschaftlich so eng wie möglich mit der EU verbunden zu bleiben, fordert The Economist:
„Die Ursache für den jüngsten Absturz des britischen Pfunds ist die Erkenntnis, dass Theresa Mays Regierung einen harten Brexit mit einem Austritt aus der Zollunion und dem Binnenmarkt der EU anstrebt. Außerdem wird der Absturz der Währung von der Angst befeuert, dass Großbritannien zu einem fremdenfeindlichen, interventionistischen und unberechenbaren Land wird, wurden doch jüngst die Rufe laut nach einem harten Vorgehen gegen Arbeitskräfte und Kapital aus dem Ausland. ... Eine erdrückende Beweislast zeigt, dass es die britische Wirtschaft enorm viel kosten würde, wenn das Land die Zollunion und den Binnenmarkt verließe. Ein Verbleib in diesen würde politischen Mut erfordern, hätte aber klare ökonomische Vorteile. Es ist noch nicht zu spät für einen Kurswechsel.“
Handelsdefizit wird dem Land das Genick brechen
Das britische Pfund ist am Dienstag auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren gefallen. Am Mittwoch hat sich die Währung wieder etwas erholt. Die Leidtragende des harten Brexit ist die britische Wirtschaft, warnt La Stampa:
„Die Befürworter des Brexit hören gern Geschichten von shoppenden Ausländern. Mit Recht: Die Ausgaben der Touristen, ihre Mahlzeiten und Übernachtungen, greifen der britischen Wirtschaft unter die Arme. Und es stimmt auch, dass die Exporte dank der schwachen Währung steigen. Doch das wird nicht genügen. Das Vereinigte Königreich hat ein beachtliches Handelsdefizit. ... Es importiert deutlich mehr als es exportiert. Eine schwache Währung ist unter diesen Bedingungen ungünstig, denn sie treibt die Preise der Importe in die Höhe, kurbelt die Inflation an und verringert die Kaufkraft der Verbraucher. Der Export kann dies nicht aufwiegen, denn er bestreitet nur ein Drittel des britischen Bruttoinlandsproduktes, den Rest besorgen Konsum, Investitionen und andere Aktivitäten, die von der schwachen Währung nicht profitieren.“
Mehr Souveränität ist illusorisch
Großbritannien dürfte kaum in der Lage sein, durch den Brexit mehr Souveränität zu erlangen, meint Guntram B. Wolff vom Think Tank Bruegel in einem Gastbeitrag für Rzeczpospolita:
„Die Premierministerin hat angekündigt, dass ihre Regierung das gesamte EU-Recht automatisch ins britische Recht übernimmt. Zum Zeitpunkt des Austritts aus der Gemeinschaft wird das britische Recht folglich damit identisch sein. ... Dies würde aber bedeuten, dass sich Großbritannien ganz genau an die Richtlinien der EU halten muss, um die aufkommenden Unstimmigkeiten in Grenzen zu halten. ... Doch in einem solchen Szenario wäre die Wiedererlangung der Souveränität nur eine Illusion.“
Über die Form des Brexit bestimmt die EU
Die EU-Kritiker in London irren sich gewaltig, wenn sie glauben, dass die britische Regierung den 27 verbliebenen EU-Staaten wird diktieren können, wie die Beziehung zwischen beiden Seiten neu geregelt wird, meint The Guardian:
„Für die vielen Freunde und Bewunderer, die Großbritannien in Europa noch hat, muss das eine schwierige Zeit sein. Einige von ihnen hätten vielleicht erwartet, dass Großbritannien zu diesem Zeitpunkt mitten in einer ernsthaften und weitreichenden Debatte mit dem so viel größeren Bruder auf der anderen Seite des Ärmelkanals steckt, um die Beziehung mit diesem wieder in Ordnung zu bringen. Stattdessen verliert sich das Land in wahnhafter Wichtigtuerei. Es spricht mit sich selbst über sich selbst. ... Die EU wird ihre nationalen und gemeinsamen Interessen mit genau so viel Nachdruck verteidigen wie Großbritannien. Und weil die EU mehr als sieben Mal so groß ist, wird sie es sein, die ihren Willen durchsetzt. … Wie der Brexit aussehen wird, bestimmt die EU.“
May macht alles nur noch schlimmer
Statt die Wogen zu glätten, gießt May nur weiter Öl ins Feuer, ärgert sich ABC:
„Die britische Premierministerin hat die zerstörerischen Folgen des Austritts-Referendums anscheinend noch nicht vollends verstanden. ... Ihr eigentlicher Auftrag hätte gelautet, die Auswirkungen dieses Übergangs zu lindern, von der EU-Mitgliedschaft in eine noch unbekannte Zukunft. Stattdessen hat sich Theresa May wohl vorgenommen, eben jene populistischen und nationalistischen Gefühle zu verstärken, die die Briten in diese Krise geführt hatten. Gerade als ob es ihr darum ginge, den von Ukip verursachten Ausgang des Resultats nachträglich zu rechtfertigen. Ihre halbherzig zurückgenommenen Forderungen der Zählung von Ausländern in Unternehmen und Schulen entspringen einem fremdenfeindlichen Geist, den wir in Europa längst überwunden wähnten.“