Wahltag in den USA
Rund 200 Millionen Stimmberechtigte entscheiden heute über den 45. US-Präsidenten. Analysten halten die demokratische Kandidatin Clinton für die Favoritin, in Schlüsselstaaten liegt ihr republikanischer Konkurrent Trump allerdings fast gleichauf. Welchen Einfluss hat das Ergebnis auf Europa? Und wie haben die Wahlkampagnen den Zustand der Demokratie verändert?
Bürger haben Vertrauen in System verloren
Der Wahlkampf könnte der US-Demokratie nachhaltig geschadet haben, bilanziert der Kurier:
„Wut, Angst und Frustration der Bürger zu bedienen, um sie so bei - zumindest schlechter - Laune zu halten und an die Wahlurne zu bugsieren, war ein gefährlich zynisches Spiel. Mit genau dieser Grundstimmung betrachten die Bürger die Politik, die man ihnen später vorsetzt. Sie werden sie als frustrierend, unzureichend, nicht ihren Wünschen entsprechend abtun. Ohne Grundvertrauen in ein System wird kein Bürger akzeptieren, dass die Demokratie nicht nur seine Wünsche erfüllt, sondern ihm auch etwas abverlangt. Und das ist für jede Demokratie existenzgefährdend - und die größte und wichtigste dieser Welt nähert sich bedrohlich diesem Zustand.“
US-Demokratie schwer angeschlagen
Die Leidtragende des Wahlkampfs ist die Demokratie, konstatiert auch der Politologe Vittorio E. Parsi in Avvenire:
„Es bleibt ein jämmerliches Bild des Zustands der ältesten Demokratie der Neuzeit zurück: ein immer längeres und teureres Auswahlverfahren, das am Ende eine enttäuschende Alternative hervorgebracht hat. ... Die amerikanische Demokratie, und mit ihr die Demokratie als solche, geht schwer angeschlagen aus diesem Prozess hervor. Alle westlichen Demokratien sehen sich heute de facto mit einer wachsenden Kluft konfrontiert: einem Bruch zwischen dem Establishment und denjenigen, die gegen die immer offenkundigere Verschanzung des Establishments hinter seinen unerträglichen Privilegien protestieren. ... Das, was historisch als die Stärke der Demokratie gegenüber allen anderen Regierungsformen galt, ist in Mitleidenschaft gezogen worden: die Fähigkeit, dem Machtwechsel seine potentielle Gefahr zu nehmen.“
Selbst mit Trump wird alles nicht so schlimm
Mit den Folgen eines Wahlsiegs von Trump setzt sich La Vanguardia auseinander:
„Die Wahl in den USA ist die einzige mit globaler Bedeutung. ... Das hat zwei Gründe: Die Leichtigkeit, mit der die Staaten ihren Way of Life exportieren und eine derart große wirtschaftliche und militärische Führungsrolle, die bewirkt, dass was die Wähler in Florida, Iowa oder Minnesota entscheiden, den Rest der Weltbevölkerung betreffen kann. ... Im Vergleich zur traditionellen Diplomatie der ehemaligen Außenministerin [Clinton] prahlt Trump mit einem besorgniserregenden Isolationismus. Mit seinem Slogan 'America First' hat er sich leichtfertig zu allen weltpolitischen Themen geäußert und beängstigend simple Rezepte verteilt. Aber dank des Kräfteausgleichs im politischen System der USA würde sein Sieg keine totale Abschottung bedeuten. Der Senat würde ihn zu gemäßigteren Lösungen zwingen.“
Clinton wird Berlin unter Druck setzen
Gewinnt Clinton die Wahl, würde Deutschland aufatmen - doch von Gemütlichkeit für die Bundesregierung kann auch dann keine Rede sein, meint Spiegel Online:
„Eine Präsidentin Clinton würde Angela Merkel und die Bundesregierung nett lächelnd unter Druck setzen: Wollen wir mehr Sanktionen gegen Russland mittragen? Mehr Aufrüstung an der Ostgrenze der Nato? Schon jetzt ist die Große Koalition in Berlin in diesen Fragen gespalten, ebenso wie die gesamte EU. ... In den USA gibt es das grundlegende Gefühl, die Europäer müssten sich in Sicherheitsfragen mehr engagieren: Amerika kann nicht immer alle Probleme vor ihrer Haustür für sie lösen. Dieser Stimmung wird auch eine Clinton-Regierung folgen müssen. Für Deutschland bedeutet das: Höhere Militärausgaben sind möglich, die gemeinsame europäische Armee dürfte weiter Gestalt annehmen. Und auch die Diskussion über mehr militärisches Engagement Deutschlands in Konflikten wie etwa in Syrien könnte sich verschärfen.“
Gefährliche Zeiten für Osteuropa
Die Zeit nach der Wahl des neuen US-Präsidenten könnte für Osteuropa gefährlich sein, erklärt der Politikwissenschaftler Viljar Veebel in Eesti Päevaleht:
„In der Zeit der Machtübergabe von Obama an den neuen Präsidenten entsteht ein Fenster der Unentschlossenheit, das die Großmächte ausnutzen könnten, um ihre regionalen Positionen zu verbessern. Für China oder Russland wird es in den nächsten Jahren kaum einen besseren offenen militärischen Manövrierraum geben, als in den Monaten vor dem Amtsantritt im Januar. Zum Glück sind Estland und die baltischen Staaten nicht der wichtigste Krisenherd auf der Weltkarte. Wohl aber kann die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die möglicherweise neu aufflammenden Konflikte in der Ukraine, in Syrien, Taiwan, dem Südchinesischen Meer und auf der Korea-Halbinsel ein Sicherheitsvakuum im Baltikum verursachen.“
Nächster Präsident steht vor mission impossible
Wer auch immer die US-Wahl gewinnt, die Gräben in der amerikanischen Gesellschaft zu überwinden, wird ein Ding der Unmöglichkeit, glaubt Die Presse:
„Unleugbar ist, dass sich in den USA ... eine enorme Kluft zwischen Siegern und Verlierern der Globalisierung aufgetan hat. In ihrem Hass auf die Eliten und auf deren Symbolfigur Hillary Clinton ... klammern sich die 'Erbarmungswürdigen' - so die Diktion Clintons - an jede noch so kleine Hoffnung. Und sei es ein tumber Selbstdarsteller, der das Blaue vom Himmel verspricht, dabei aber nur sein Ego aufplustert. Vor acht Jahren ist Barack Obama angetreten, die Differenzen zwischen Schwarz und Weiß, zwischen dem roten, republikanischen, und dem blauen, demokratischen, Amerika zu überwinden. Dies ist kläglich fehlgeschlagen, und es ist gewiss nicht allein Obamas Schuld. Die Polarisierung ist größer denn je, das rote Herzland und die blauen Küstenstreifen driften immer weiter auseinander. Es wäre für jeden Präsidenten eine mission impossible, die Gräben zu überbrücken - umso mehr für die beiden Kandidaten.“
USA und Europa brauchen einen New Deal
Der Wahlkampf in den USA hat die tiefe Spaltung in der Bevölkerung offenbart, analysiert De Standaard und erkennt Parallelen zu Europa:
„Auch in Europa sind populistische oder radikal rechte Bewegungen auf dem Vormarsch. ... Wie kann man gegen die Ideen von Ausschluss und Hass vorgehen, ohne die Anhänger dieser Bewegungen weiter zu entfremden? ... Die Lösung haben auch wir in Europa bislang nicht gefunden und auch für uns drängt die Zeit. Ohne eine fairere Gesellschaft gelingt die Aufgabe sicher nicht. Eine ehrlichere Gesellschaft, in der sich Menschen einsetzen wollen und Zugang haben zu einem guten Job. Wo sie Chancen sehen für sich und ihre Kinder und wo sie Aussicht haben auf eine bezahlbare Gesundheitsversorgung und eine gute Rente. ... Ein New Deal also, mit weniger Ungleichheit und mehr Solidarität. Und ein politisches System, das näher bei den Menschen steht, sie einbezieht, sie gewinnt für eine langfristige Vision. Denn es ist vor allem die Unsicherheit, die Angst und Wut nährt. Und auf der Phänomene wie Trump gedeihen.“
Putin profitiert so oder so
Nach dieser Wahl wird nichts mehr so sein wie bisher, warnt Večernji list:
„Entweder werden sich die USA in Bezug auf Europa und den Nahen Osten in einen verstärkten Isolationismus zurückziehen, oder deutlich aggressiver auf der Weltbühne auftreten, was auch die Aufrüstung der Aufständischen in Syrien beinhalten würde. Europa hat keinen großen Einfluss auf den Wahlausgang, aber das Ergebnis wird auch hier eindeutige Folgen haben. Beginnt der Einfluss der USA in Europa zu sinken, werden die östlichen Grenzen der EU in Richtung Russland durchlässiger. Gewinnt die andere Seite, wird der Krieg in Syrien aufflammen und wir werden von einer erneuten Flüchtlingswelle erfasst. Nur einer profitiert unabhängig davon, wer morgen in Amerika gewinnt: Wladimir Putin. Gewinnt Trump, kann sich Russland über das sinkende Interesse der USA für die Weltpolitik freuen. Gewinnt Clinton, hat Putin eine schwache Präsidentin als Widersacherin, angeschlagen von zahlreichen Affären und all ihren Leichen im Keller.“
Kein Grund zur Panik
Die ganze Welt hält den Atem an und schaut gebannt nach Washington - doch stehen wir wirklich am Rande des Abgrunds, fragt sich Wirtschaftsexperte und Blogger Luigi Zingales in Il Sole 24 Ore und antwortet:
„Ich glaube kaum. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das Repräsentantenhaus eine republikanische und der Senat eine demokratische Mehrheit haben. Wer auch immer siegt, wird also Kompromisse eingehen müssen, um zu regieren. ... Diese Gewaltenteilung ist es, die gewährleistet, dass der potenzielle Schaden, den ein Präsident der Vereinigten Staaten verursachen kann, begrenzt ist. Wer auch immer gewählt werden wird, wird eine expansivere Steuerpolitik und eine isolationistischere Außenpolitik betreiben. Er wird mit wachsendem Widerwillen neue Freihandelsabkommen unterzeichnen. … Wenn wir von den Richtern des Obersten Gerichtshofs einmal absehen: Der Ausgang des Wettlaufs um die Präsidentschaft wird nicht so entscheidend sein, weder für die Zukunft der Vereinigten Staaten, noch für die der Welt.“