Steht TTIP vor dem Aus?
Frankreich will die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU stoppen. Zuvor hatte Deutschlands Wirtschaftsminister Gabriel TTIP bereits für "de facto gescheitert" erklärt. Die EU wird es bereuen, wenn der Vertrag nicht zustande kommt, prophezeien Kommentatoren, und fürchten, dass besonders das deutsch-amerikanische Verhältnis weiter leiden könnte.
Freihandelsabkommen besser als sein Ruf
TTIP sollte trotz aller Kritik umgesetzt werden, meint Upsala Nya Tidning:
„Der größte Stolperstein für TTIP ist das Investor-Staat-Schiedsverfahren ISDS: Unternehmen, die eine Geschäftstätigkeit in anderen Ländern aufnehmen, brauchen einen Schutz für ihre Investitionen, falls sich die Voraussetzungen plötzlich ändern. ... Aufgrund noch offener Fragen bleibt das ISDS eine harte Nuss. Bei den übrigen Befürchtungen handelt es sich eher um Mythen, die einige gern am Leben halten wollen. ... In Schweden wird nach wie vor schwedisches Recht gelten, ebenso wie innerhalb der Union EU-Bestimmungen gültig bleiben. Bei TTIP ging es nie darum, dass wir in Europa Umweltschutz-, Lebensmittel- oder Tierschutzstandards senken sollen. In Zeiten von Terror, Populismus und Brexit wäre ein neues, weitreichendes Handelsabkommen ein positives Symbol. Eine Unterzeichnung des TTIP-Abkommens im kommenden Jahr wäre somit erstrebenswert.“
Deutsch-Amerikanisches Verhältnis leidet
Durch die Steuerforderungen an den US-Konzern Apple und die sich hinschleppenden TTIP-Verhandlungen bröckelt die transatlantische Brücke, fürchtet das Handelsblatt:
„Die Entfremdung zwischen Europa und den USA ist mit Händen zu greifen. Es vergeht fast kein Tag mehr, an dem es keine Meldung aus Politik und Wirtschaft über massive Unstimmigkeiten gibt. ... Es bedarf großer Anstrengungen auf beiden Seiten des Atlantiks, die alte Freundschaft zu erhalten. Doch wie bei einem guten Therapeutengespräch sollten sich beide Ehepartner an den Anfang erinnern. In der gesamten Nachkriegsgeschichte bis zur Wiedervereinigung gab es speziell für Deutschland keinen verlässlicheren Partner. ... Wenn die schlechte Stimmung die deutsch-amerikanische Freundschaft der Bürger beschädigt, wäre das fatal. Das Gefühl der Verbundenheit ist unbezahlbar, egal, wer im November ins Weiße Haus einzieht. Die Bundesregierung wird sich mit der US-Administration zusammensetzen müssen, um die gemeinsamen Interessen neu zu definieren.“
Obamas Freihandelstraum ist geplatzt
Obama kann TTIP wohl nicht zum politischen Erbe seiner Präsidentschaft machen, prognostiziert Foreign Policy:
„Der US-Präsident hat lange Zeit davon geträumt, sich mit zwei abgeschlossenen Handelsabkommen aus seinem Amt zu verabschieden: der Transpazifischen Partnerschaft mit zwölf asiatischen Staaten und dem Transatlantischen Freihandelsabkommen mit Europa. Beide scheinen nun dem Untergang geweiht zu sein. ... Anstatt sich einen weitreichenden Handelspakt zwischen den USA und Europa als Abschiedsgeschenk sichern zu können, muss Obama nun abwarten, ob TTIP jemals abgeschlossen wird. Seine Vision eines ähnlichen Abkommens in Asien, gebildet durch [die Transpazifische Partnerschaft] TTP, siecht auch langsam dahin. Beide Präsidentschaftskandidaten betonen, dass sie es ablehnen. Außerdem wird es im Kongress nach der Wahl [bevor der neue Kongress sein Amt antritt] nicht genügend Stimmen geben, um das Abkommen durchzudrücken.“
Wahlkämpfe blockieren Abkommen
Frankreich und die USA sind im Wahlkampf - und bevor der nicht abgeschlossen ist, wird sich beim Thema TTIP gar nichts bewegen, prophezeit Duma:
„In Frankreich finden nächstes Jahr Wahlen statt. Die französische Regierung, die gerade nicht besonders hoch in der Wählergunst steht, hat wohl eingesehen, dass die Unterstützung für TTIP politischer Selbstmord wäre in Anbetracht der vielen Franzosen, die sich der 'Stopp-TTIP'-Initiative angeschlossen haben. Bei benötigten 55.500 Unterschriften für den Start einer Europäischen Initiative haben 360.227 Franzosen unterschrieben, also sechsmal mehr als notwendig. ... In den USA stehen ebenfalls bald Wahlen an und es ist ausgeschlossen, dass Obama sein ursprüngliches Versprechen, TTIP bis zum Ende seiner Amtszeit durchzubringen, noch einlösen wird. Was nach dem Machtwechsel passiert, steht noch in den Sternen. Trump lehnt TTIP kategorisch ab und Clinton hat es mehrfach kritisiert.“
TTIP-Gegner setzen sich nach Brexit-Votum durch
Die Debatte um TTIP zeigt, wie sehr die Befürworter des freien Handels an Einfluss verloren haben, konstatiert Helsingin Sanomat:
„Ein mögliches Einfrieren von TTIP würde auch zeigen, wie sich die Kräfteverhältnisse in Europa verändern. Großbritannien war ein vehementer Befürworter des freien Handels. Wenn es nun zur Seite tritt, macht es Platz für die unter Politikern in Mitteleuropa weit verbreitete Vorstellung, wonach die Politik das Steuer in der Hand halten muss und die Marktkräfte eine Nebenrolle zu spielen haben. Ein Scheitern von TTIP wäre eine Niederlage. Denn die Bedeutung des Abkommens wäre groß, da es Hemmnisse für Unternehmensaktivitäten beseitigen und Standards für den westlichen Handel festlegen würde.“
Das Abkommen nützt Verbrauchern nichts
Warum es den Verhandlungsführern nach drei Jahren immer noch nicht gelungen ist, die Öffentlichkeit von TTIP zu überzeugen, erklärt L'Echo:
„Das Abkommen geht über ihr Kompetenzfeld hinaus: TTIP ist mehr ein Regulierungs- als ein Handelsvertrag. Dort, wo herkömmliche Handelsabkommen dem Konsumenten niedrigere Preise versprechen, berührt dieser Text so sensible politische Themen wie Nahrungsmittelqualität und Einhaltung von Umweltschutzstandards. Anstatt dem Verbraucher einen Anstieg seiner Kaufkraft zu versprechen, fordert ihn TTIP dazu auf, künftigen Verträgen von Regulierungsbehörden sein Vertrauen zu schenken. Das ist wahrlich viel verlangt. Vor allem in einer Phase des Rückzugs: Sei es zum Schutz der Umwelt oder aus Wirtschaftspatriotismus - kurze Warenwege sind auf dem Vormarsch, während die multinationalen Konzerne Misstrauen erregen. Steuerskandale haben ihrem Ruf zusätzlich geschadet. Doch dieses Abkommen erweckt weiterhin den Eindruck, für große Unternehmen maßgeschneidert worden zu sein.“
Scheitern von TTIP wäre Bankrotterklärung
Einen Schlussstrich unter TTIP zu ziehen, hält die Frankfurter Allgemeine Zeitung für falsch:
„Im Grunde suggeriert Gabriel, man könne mit den Amerikanern überhaupt nicht verhandeln. So viel antiamerikanisches Ressentiment ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl und so viel Parteitaktik müssen offenbar schon sein. ... In der Debatte über Vor- und Nachteile von TTIP ist viel Ideologie, viel Opportunismus und manche Übertreibung im Spiel. Nüchtern wird selten gewogen. Die Gegner sehen allen Ernstes das Zusammenleben in Europa bedroht. Die Befürworter erwarten spektakuläre Wachstumsimpulse. Die Sache sollte zu Ende verhandelt werden, dann wird man ja sehen. Aber was wäre das für ein Signal, wenn die Sache abgeblasen würde - an Amerika, an die Welt, an die Europäer selbst? Der Verzicht auf Einfluss und globale Mitgestaltung im Verbund mit den Nordamerikanern käme einer Bankrotterklärung gleich.“
Europa würde den Kürzeren ziehen
Spätestens nach den jüngsten Aussagen des deutschen Vizekanzlers und Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel liegt TTIP in Trümmern, was vor allem ein Problem für Europa sein dürfte, urteilt Hospodářské noviny:
„Vom einstigen Optimismus, die Verhandlungen bis Ende dieses Jahres zu beenden, ist nichts geblieben. Hauptgrund sind Wahltermine, für das Weiße Haus, den Élysée-Palast und den Bundestag. ... Wenig Wille zum Kompromiss gibt es auch in Übersee. Donald Trump verspricht, den US-Markt vor billigen Einfuhren zu schützen. Hillary Clinton weicht dem Thema TTIP aus Vorsicht aus. ... Wer wird das am Ende am meisten bedauern? Es werden in erster Linie die Europäer sein. Die Vereinigten Staaten haben sich mittlerweile mit einer Reihe von Staaten auf der anderen Seite des Pazifiks über ähnlich ambitionierte transpazifische Partnerschaften geeinigt.“
Protektionismus höhlt Freiheit des Einzelnen aus
Hinter dem mutmaßliche Ende von TTIP steckt der gleiche Ruf nach einem starken Staat, der auch die anti-europäischen Bewegungen beflügelt, warnt Ferruccio de Bortoli in Corriere del Ticino:
„Basiert die Notwendigkeit eines Staats mit mehr Macht im Bereich der Sicherheit und der Migrationsfrage auf verständlichen Gründen, trifft dies auf die wieder aufblühenden Sehnsüchte nach Protektionismus und staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft nicht zu. ... Die liberalen Grundsätze der Marktwirtschaft und die Vorteile des Wettbewerbs scheinen einem tückischen und unerwarteten Gegenwind ausgesetzt. Hoffentlich werden sie nicht Opfer der kritischen Situation. Der Staat als Unternehmer bleibt eine ungesunde Idee, sie verursacht Verschwendung und Ineffizienz. Der Protektionismus kann helfen, ein paar mehr Wählerstimmen zu bekommen, doch fördert er nicht das Wachstum und höhlt am Ende, Schritt für Schritt, auch die Freiheit und die Rechte des Einzelnen aus.“
EU und USA vergeben große Chance
TTIP steht offenbar vor dem Aus, obwohl den transatlantischen Beziehungen ein derartiges Abkommen gut getan hätte, kommentiert Público:
„Der wohl bedeutendste Versuch, der in den vergangenen Jahrzehnten unternommen wurde, um die Beziehungen zwischen Europa und den USA auszubauen, ist eindeutig gescheitert. Die Geheimhaltung der Verhandlungen, die Zugeständnisse, die von Europa in sensiblen Bereichen wie Umweltschutz oder Nahrung gefordert wurden, aber auch die Entscheidungsmacht, die multinationale Unternehmen bei Handelskonflikten bekommen hätten, machen ein Scheitern sogar wünschenswert. ... Symbolisch als auch praktisch bedeutet dieses 'Versagen' aber auch eine beunruhigende Veränderung innerhalb der Beziehungen der beiden großen westlichen Blöcke. Und das zu einer Zeit, in der die wachsende Macht Chinas und die Instabilität im Nahen Osten die Stärkung der transatlantischen Beziehungen immer wichtiger werden lassen.“
Auch an die Verlierer der Globalisierung denken
Gabriel schätzt die Lage außerordentlich realistisch ein, kommentiert De Tijd:
„Politisch ist TTIP schon jetzt auf beiden Seiten des Ozeans nicht mehr zu verkaufen. Das ist an sich ein gutes Zeichen. Vielleicht ist das drohende Scheitern von TTIP auch eine Gelegenheit, den immer weitergehenden Trend der Globalisierung neu zu überdenken und auch dem Schicksal der Verlierer Aufmerksamkeit zu schenken. Die gibt es deutlich auf beiden Seiten des Ozeans. Angesichts der kommenden Wahlen bei den wichtigsten Beteiligten ist die Konsequenz klar. Der deutsche Wirtschaftsminister Gabriel sprach aus, was in großen Teilen Europas schon lange gärt. Die internationale Wirtschaft braucht neue Regeln und neue Normen. Es muss ein größeres internationales Gleichgewicht geben.“
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