EU macht Druck bei Brexit-Verhandlungen
Laut EU-Unterhändler Michel Barnier soll der Brexit bis Oktober 2018 vollzogen sein. Er sagte am Dienstag in Brüssel, dass die EU nur 18 Monate Zeit habe für die Verhandlungen, wenn Großbritannien das Austrittsgesuch im kommenden März stellt. Kommentatoren sehen Brüssel am längeren Hebel sitzen und glauben nicht, dass London die Bedingungen für den Brexit diktieren kann.
Theresa May zunehmend verzweifelt
Harte Forderungen aus Brüssel und Widerstände in London setzen der britischen Regierung zu, beobachtet die Wiener Zeitung:
„Nun sind Barniers Aussagen sicherlich eine Maximalforderung, mit denen Verhandlungen üblicherweise begonnen werden. Aber die britische Regierung unter Theresa May kommt auch zu Hause immer stärker unter Druck. Sie sieht sich einer Petition gegenüber, die auch von Tory-Abgeordneten getragen wird, die eine Information der Bevölkerung über die Brexit-Pläne fordert. Und das Höchstgericht entscheidet am Donnerstag, ob das Parlament zum Brexit zu befragen ist. All das schwächt ihre Verhandlungsposition und verzögert sie auch zeitlich. Die Premierministerin wirkt denn auch zunehmend verzweifelt, und in der Bevölkerung beginnt sich offenbar die Stimmung zu drehen. Immer mehr Briten erkennen, dass ein Austritt aus der EU doch keine so gute Idee ist. Bei einer jüngsten Nachwahl zum britischen Unterhaus gewann deutlich eine Kandidatin, die den Brexit ablehnt.“
London würde lieber abwarten und Tee trinken
Warum Großbritannien es nicht so eilig mit dem Brexit hat, erklärt Il Sole 24 Ore:
„London will sich nicht auf einen zeitlichen Rahmen einlassen, der die Regierung zwingt, schnelle Entscheidungen zu fällen. Vor allem weil das britische Establishment bis heute noch nicht entschieden hat, was es eigentlich will. Einige Regierungsvertreter haben durchblicken lassen, dass das Land bereit wäre, der EU für den Zugang zu ihrem Binnenmarkt einen finanziellen Beitrag zu entrichten - nach dem Vorbild Norwegens. Andere sind dagegen. Über der offiziellen Antragstellung zum EU-Austritt schwebt zudem auch eine rechtliche Frage. ... Das Oberste Gericht Großbritanniens muss über die Berufung entscheiden, die die Regierung May gegen das Gerichtsurteil im November eingelegt hat, wonach das Parlament das Referendum bestätigen und der Einleitung des EU-Austrittsprozesses zustimmen muss.“
Briten haben wenig Entscheidungsmacht
Die EU sitzt am längeren Hebel bei den Brexit-Verhandlungen, analysiert der britische Historiker Timothy Garton Ash in El País:
„Die derzeitige Debatte über einen 'weichen oder harten Brexit' ist absurd. Das wird eher von anderen als von uns abhängen. Eine Position, aus der heraus man in zwei Jahren 27 Staaten überzeugen muss, ist sehr schwach. Und Europas Reserven an gutem Willen gegenüber Großbritannien sind stark geschrumpft, wir waren ja immer ein unbequemer Partner. ... Dazu kommt, dass in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland Wahlen anstehen. Das wird die Verhandlungen 2018 beeinflussen. ... In so unsicheren Zeiten bleibt also nur eine Option: strikter parlamentarischer Ablauf, Information an die Bürger, intensive diplomatische Arbeit, alle Möglichkeiten offen halten, Gelegenheiten nutzen. Es mag langweilen, aber wer hat schon gesagt, dass der Brexit ein Spaß wird?“
Großbritannien braucht EU-Zuwanderer
Einer der wichtigsten Streitpunkte beim Brexit ist die Frage, wie Großbritannien künftig mit EU-Ausländern umgehen wird. Dass sich die britische Premierministerin weigert, ihnen ein Bleiberecht zu garantieren, ist eine leere Drohung, kritisiert The Times:
„In Großbritannien eingewanderte EU-Ausländer sind signifikant jünger als der nationale Durchschnitt und haben eher einen Arbeitsplatz, wie die Daten der Nationalen Statistikbehörde zeigen. Das bedeutet, sollten wir uns entscheiden, sie alle zurückzuschicken, würden wir dem Rest der EU damit nicht einmal halb so viel schaden wie uns selbst. ... Natürlich gibt es auch noch die hunderttausenden jungen Briten, die gewinnbringend in anderen EU-Staaten angestellt sind. Doch sie sind breit verteilt. Ihre plötzliche Ausreise hätte in keinem Land verheerende Auswirkungen auf Tourismus, Bauindustrie oder Krankenpflegepersonal. Aber hier in Großbritannien? Daher funktioniert die Drohung einfach nicht.“