Hält Merkel dem Druck stand?
Der Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt heizt die Debatte um die deutsche Flüchtlingspolitik wieder an. Politische Gegner im In- und Ausland machen Angela Merkel für die Bluttat verantwortlich. Die Art und Weise, wie die Bundeskanzlerin sich nun verhalten und auf populistische Hetze und Fremdenhass reagieren wird, ist Kommentatoren zufolge für ganz Europa von Bedeutung.
Besonnenheit statt Kriegsrhetorik
Mit ihrer Reaktion auf die Bluttat vom Montag hebt sich Merkel positiv von der Reaktion ihres französischen Counterparts auf die Anschläge in Nizza ab, meint die Financial Times:
„Angela Merkel wartete nach dem Anschlag mehr als zwölf Stunden, bevor sie an die Öffentlichkeit trat. François Hollande reagierte schneller und heftiger auf Anschläge in seinem Land und kündigte Sofortmaßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit an. ... [Nach den Attacken in Paris] im November 2015 erklärte er, dass Frankreich im Krieg stünde. Mit Berufung auf eine Klausel im EU-Vertrag von Lissabon rief er seine europäischen Partner auf, gemeinsam den Terrorismus in Afrika und im Nahen Osten zu bekämpfen. Eine solch kriegerische Rhetorik fehlt in Deutschland. ... Es war auch bemerkenswert, dass Merkel in ihrer Beileidsbekundung für die Opfer des Anschlags ausdrücklich freiwilligen Flüchtlingshelfern dankte. Denn die Unterstützung der Zivilgesellschaft für ihre Politik ist aus praktischer und politischer Sicht unverzichtbar.“
Merkel lag falsch
Der Optimismus von Angela Merkel war unangebracht und schadet nun Flüchtlingen und dem vereinten Europa gleichermaßen, findet Jędrzej Bielecki von der Rzeczpospolita:
„'Wir schaffen das.' Das hat im Sommer 2015 Angela Merkel versichert, als Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak die Grenzen zu Deutschland überschritten. Jetzt, wo die ganze Wahrheit über den Attentäter herauskommt, wirken diese Worte wenig glaubwürdig. ... Ich kann mich erinnern, wie sich französische Diplomaten vor einem Jahr mit einer gewissen Ironie zum Optimismus der Bundeskanzlerin geäußert haben. Sie stammen aus einem Land, das wesentlich mehr Erfahrung mit arabischem Terrorismus hat. Wenn sich jetzt zeigt, dass sie damit Recht hatten, dann werden vor allem die Flüchtlinge leiden. Die überwältigende Mehrheit von ihnen besteht aus ehrlichen Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Und auch das vereinte Europa wird darunter leiden, das unbedingt darauf angewiesen ist, dass Merkel im kommenden Jahr die Wahlen gewinnt.“
Kanzlerin vor einem sehr schweren Jahr
Der mutmaßliche Terrorangriff von Berlin und das dadurch erzeugte Gefühl der Unsicherheit machen es Merkel im Wahlkampf des kommenden Jahres nicht eben leichter, fürchtet Pravda:
„Merkel hat zwar bislang alle Angriffe aus dem rechten und linken Lager durchgestanden und ihre CDU stabilisieren können. Der Terror aber spielt der Alternative für Deutschland neue Wähler zu. Zum Thema des bevorstehenden Wahlkampfes werden denn auch nicht Wirtschaft und Finanzen, obwohl Deutschland da in blendender Verfassung ist. Es wird vor allem um die Themen Sicherheit und Migration gehen. Die AfD missbrauchte diese Themen gleich nach dem Anschlag in Berlin mit der Schuldzuweisung, die Toten seien 'Merkels Tote'. Das zeigt, welche Richtung der Wahlkampf nehmen wird. Nicht auszudenken, welches Ausmaß derlei annähme, wenn sich solche Terrorangriffe kurz vor der Wahl wiederholen sollten. Merkel steht vor einem sehr schweren Jahr.“
Hetzer sind Handlanger der Terroristen
Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders hat Bundeskanzlerin Merkel für die Bluttat in Berlin verantwortlich gemacht und eine Fotomontage getwittert, die sie mit blutbefleckten Händen zeigt. Kolumnist Bert Wagendorp verurteilt diese Reaktion in De Volkskrant:
„Emotionen sind die Waffen der Terroristen, Rationalität ist die Verteidigungslinie der westlichen Gesellschaft. Also denke ich, dass Merkel das Recht auf ihrer Seite hat. ... Emotionen nach Anschlägen sind verständlich, sind aber als Leitlinie für Entscheidungen ungeeignet. Das würde uns ins Lager derjenigen bringen, die die offene westliche Gesellschaft vernichten wollen. Hetzer und Händler der Angst sind die Handlanger von Terroristen. ... Wilders tut schon lange sein Bestes, um die offene, liberale Gesellschaft zu vergiften, den Verstand auf ein Abstellgleis zu manövrieren und das Volk mit inhaltsloser und lügnerischer Prahlerei zu blenden. Und mit Lösungen, die keine Lösungen sind, sondern kranke Illusionen, die - wenn sie realisierbar wären - zu Katastrophen führen würden.“
Politiker wie Merkel sind IS ein Dorn im Auge
Die Terroristen der IS-Miliz betreiben Wahlkampf für rechtsextreme Kräfte in Europa, warnt Corriere della Sera:
„Diese neue Attacke könnte nicht nur oder in erster Linie gegen das 'christliche Weihnachtsfest' gerichtet sein. ... Sie könnte auch auf die Freiheit der Wahlentscheidung an den Urnen verschiedener europäischer Nationen abzielen, und sich somit als Akt einer infamen 'Wahlkampagne' der Anhänger des Kalifats herausstellen. … Denn die wahre Absicht der Dschihadisten ist nicht, ein paar Tausend Islamisten zu radikalisieren, sondern uns, Millionen von Europäern. Welchen Feind wünscht sich derjenige, der sein Volk im Namen Allahs in den Heiligen Krieg führt? Rationale Regierungschefs wie Merkel, die bereit sind, diejenigen, die ein Recht darauf haben, aufzunehmen und darauf bedacht sind, besonnen zu handeln? Oder Führungskräfte wie Le Pen oder Frauke Petry, die die Welle der Panik reiten und Reaktionen versprechen, die so wahllos und willkürlich sind, dass sie Europas muslimische Gemeinden bis an den Punkt der totalen Konfrontation treiben?“
Deutschland ist unsere letzte Hoffnung
Auf die Resistenz der Deutschen gegen populistischen Fremdenhass setzt der britische Historiker Timothy Garton Ash in El País:
„Welche Gründe sollten uns glauben lassen, dass Deutschland resistenter gegen die Krankheit sein wird, die Blasen wie Donald Trump, Marine Le Pen und Geert Wilders hervorbringt? Mehrere. Deutschland ist eine der wenigen westlichen Demokratien mit einer gesunden Wirtschaft. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft mir ein Deutscher gesagt hat: 'Wir sind ein reiches Land und wir können es uns leisten, eine Million Flüchtlinge aufzunehmen.' Das können nicht viele Nationen von sich behaupten. Zudem ist im Gegensatz zu Großbritannien die Boulevardpresse in Deutschland relativ verantwortungsbewusst. ... Und dann vermutlich der wichtigste Grund: Adolf Hitler. Eben weil Deutschland in der Vergangenheit der teuflische Schauplatz eines populistischen Fremdenhasses war, ist es heute die dagegen wohl bestgeimpfte Nation. Wollen wir darauf vertrauen, dass dieses Tabu weiter gilt. Sonst kann uns nur noch Gott helfen.“
Besonnene Reaktion verdient Hochachtung
Großes Lob für die unmittelbare Reaktion der Bundeskanzlerin auf die Bluttat kommt von El Mundo:
„'Wir werden die Kraft finden für das Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen: frei, miteinander und offen.' Das sind mutige Worte wenn man bedenkt, dass im kommenden Herbst Wahlen in dem Land sind und der dschihadistische Terrorismus und die Aufnahme von Flüchtlingen bis dahin in der politischen Schlacht die Debatte dominieren werden. Kohärenz bewahren und die Flüchtlinge weiter verteidigen, wie Merkel das tut, ist sehr beachtlich. ... Wir sollten da eben nichts durcheinanderbringen, wie das die Rechtsextremisten tun, die die gesellschaftliche Betroffenheit nach solchen Tragödien nutzen ... Der dschihadistische Terror ist kein Kampf der Kulturen: 90 Prozent der Opfer sind Moslems. ... Deshalb schaden die Rechtsradikalen der Gesellschaft nur, wenn sie Angst und Fremdenhass schüren.“
Politik der Kanzlerin war naiv und unverantwortlich
Als Schuldige sieht die national-konservative Tageszeitung Večernji list Angela Merkel:
„Für diesen Angriff im Herzen Deutschlands und Europas ist hauptsächlich Angela Merkel verantwortlich, die die Gefahr nicht erkannt und ihre Bürger nicht geschützt hat. Jetzt zeigt sich auf schmerzhafte und tragische Weise, wie naiv sie mit ihrer Politik der offenen Tür war, die vollkommen verfehlt und unverantwortlich gegenüber dem deutschen Volk und der Europäischen Union ist. Dieser tragische Epilog einer unverantwortlichen Politik kann nur Naivlinge überraschen, die nicht verstehen, mit welcher Art islamischen Terrors die heutige Welt konfrontiert ist. ... Aber das Berliner Massaker ist ein guter Anlass, um offen über die Zukunft der europäischen und dann der ganzen westlichen Zivilisation zu sprechen, die auf christlichen Grundfesten ruht. Mit der unselektierten Migration gefährdet Europa sein Wertesystem, das es über Jahrhunderte errichtet und beschützt hat.“
Nicht von Scharfmachern provozieren lassen
Der Anschlag von Berlin macht es Angela Merkel noch schwieriger, ihren politischen Kurs der Mitte zu halten, glaubt Der Standard:
„Es wird tausend Schuldzuweisungen geben und tausend Forderungen, was jetzt sofort zu tun sei. Vielleicht sind manche gar nicht schlecht - auch wenn sie von der Opposition kommen. Aber das wird die Herausforderung der kommenden Zeit für Merkel sein: abzuwägen - und dann zu entscheiden. Und sich nicht von den Scharfmachern provozieren zu lassen. ... Die AfD ist für Merkel dabei nur eine Herausforderung. Diese Partei ist die politische Gegnerin, die jetzt natürlich Morgenluft wittert. Viel schwieriger wird für Merkel die Frage sein, ob sie ihre eigenen Truppen angesichts des schrecklichen Ereignisses bei der Stange halten kann. Seit langem schon gärt es auch in der Union, die Konservativen ballen die Faust in der Hosentasche. So mancher wird jetzt eine Gelegenheit sehen, sich nicht so sehr gegen die AfD zu stellen, sondern lieber ein paar ihrer Forderungen zu übernehmen.“
Ohne Merkel ist Europa den Spaltern ausgeliefert
Dass eine geschwächte Angela Merkel auch Europa ins Wanken bringt, fürchtet Corriere della Sera:
„Die Anti-Immigrantenpartei AfD, die Merkel vorwirft, beim Thema Sicherheit zu lügen, erschwert die für einen Wahlsieg unabdingbare Aussöhnung zwischen CDU und CSU. Auch in Europa verliert Merkel Federn. Wenn ihre Position im eigenen Land geschwächt wird, nimmt auch ihre europäische Bedeutung ab. Dann würde es für alle leichter, in den langen Brüsseler Nächten nein zu sagen und sie offen anzugreifen. Vor dem Hintergrund von nationalistischen Regierungen in einigen östlichen Staaten und Wladimir Putin in Moskau, der ihr Ende herbeiwünscht, könnten die spalterischen Kräfte in Europa gewinnen. Vor allem, wenn das neue Weiße Haus unter Donald Trump die atlantische Säule aufgibt, die die Sicherheit Europas garantiert hat.“