Weichenstellung vor dem Brexit
Die Briten wählen am heutigen Donnerstag ein neues Parlament und entscheiden damit darüber, wer sie in die Brexit-Verhandlungen mit der EU führt: Die konservative Premierministerin Theresa May oder ihr Herausforderer von Labour, Jeremy Corbyn. Für welche Partei sollten die Bürger stimmen, die einen weichen Brexit wünschen?
Taktisch gegen harten Brexit stimmen
EU-freundliche Briten sollten den jeweils aussichtsreichsten Kandidaten der Mitte-links-Parteien in ihrem Wahlkreis wählen, empfiehlt The Irish Times:
„Die nächste Unterhauswahl hätte nicht vor 2020 stattfinden sollen, ein Jahr nach dem geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU. Doch nun haben die Wähler die Chance, eine Vollbremsung zu machen. Es ist schon richtig, auch die Labour-Partei hat versprochen, den Brexit durchzuziehen, doch sie ist offen für eine weniger radikale Form des EU-Austritts. Sollten Labour und die Liberaldemokraten eine Regierungskoalition bilden können, würden sie mit ziemlicher Sicherheit eine zweite Volksabstimmung organisieren: eine über das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen mit der EU. Daher sollten alle, die gegen einen harten Brexit sind, taktisch für jenen Kandidaten stimmen, der am ehesten in der Lage zu sein scheint, den Kandidaten der Tories in ihrem Wahlkreis zu schlagen.“
Pro-Europäer brauchen starke Tories
Gazeta Wyborcza rät dem pro-europäischen Lager hingegen, die Tories zu wählen:
„Es geht nun darum, ob sie eine absolute Mehrheit bekommen - was sehr wahrscheinlich ist - und wie groß diese ist. Paradoxerweise wäre für das pro-europäische Lager ein eindeutiger Sieg der Tories besser als ein knapper - denn ein solcher würde May unabhängig machen von den euroskeptischen Falken in ihrer Partei und ihr mehr Spielraum in den Verhandlungen mit der EU geben. Wenn May mit geringem Vorsprung gewinnt, kommen belastende Koalitionsverhandlungen und politisches Chaos auf das Land zu. Es sei denn, die Labour-Partei trägt doch einen sensationellen Sieg davon.“
May täte eine Ohrfeige gut
Eine Wahlschlappe könnte May in Sachen Brexit zur Vernunft bringen, hofft Il Sole 24 Ore:
„Denn in der Zwischenzeit hat Trumps Schweigen in Brüssel zum Artikel 5 des Nato-Vertrags nicht nur die atlantische Solidarität im Falle des Angriffs auf eines seiner Mitglieder in Frage gestellt, sondern auch das traditionell privilegierte britisch-amerikanische Verhältnis getrübt. Und damit nicht genug. In Washington stößt der Brexit nicht mehr auf Beifall, und es wird auch nicht mehr über bilaterale Freihandelsabkommen gesprochen. ... Während Merkels Deutschland Europa dazu aufruft, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, entdeckt Mays Großbritannien, dass seine Isolation nicht ganz so prächtig wäre. Grund, die Meinung zu ändern? Es wäre logisch. Nur war der Brexit keine überlegte und rationale Handlung. Da fällt die Umkehr schwer. Doch Zweifel werden laut. Und eine schallende Ohrfeige für May könnte diese mehren.“
Globalisierungsverlierer nicht vergessen
Berlingske mahnt vor der Wahl in Großbritannien, dass die Politiker die Globalisierung so gestalten müssen, dass alle von ihr profitieren:
„Wenn die richtigen politischen Rahmenbedingungen für das historisch große Wachstum geschaffen werden, kann man sicherstellen, dass alle - Wirtschaft, Bürger und Wohlfahrtsstaat - einen Vorteil aus dem Segen Globalisierung ziehen. Die Anti-Globalisierungs-Haltung, die jetzt eine Reihe von Wahlen im Westen geprägt hat, ist nicht zielführend. Aber die gewählten Abgeordneten müssen erkennen, dass die Globalisierung Verlierer hervorgebracht hat, auch wenn die Gemeinschaft übergeordnet gewonnen hat. ... Es ist wichtig, dass dieser Gewinn allen Bürgern zugutekommt und nicht nur dem chinesischen Arbeiter oder dem Londoner Banker. Denn sonst zeigen die Bürger - wie das Brexit-Referendum bewiesen hat - mit dem Daumen nach unten.“
Premierministerin in der Defensive
Theresa May dürfte sich fragen, ob die Neuwahl wirklich eine gute Idee war, mutmaßt der Deutschlandfunk:
„Denn der Brexit ist ... nicht das unumstrittene Thema Nummer 1 bei den Unterhauswahlen. Es sind gleich drei machtvolle Themen, die die Wahlentscheidung beeinflussen: der Brexit, die Sozialpolitik und jetzt auch noch der Terror. … Offenbar war sie so von der Idee fixiert, dass sie als die leuchtende Führungskraft gewählt wird, die das Jahrhundertprojekt des Brexit stemmen kann, dass sie jetzt selbst auf ihrem ureigenen Gebiet als ehemalige Innenministerin völlig in die Defensive geraten ist. Premierministerin Theresa May hatte einen guten Start hingelegt und die britische Politik mit Umsicht aus den ersten Stürmen nach dem Referendum herausgeführt. Ausgerechnet in einer der schwersten Krisen des Landes hat sie diese souveräne Haltung bislang leider so nicht weiter demonstrieren können.“
May hat ihren Handlungsspielraum verschenkt
Genau wie Cameron vor dem Brexit-Referendum hat May ihre Wahlchancen falsch eingeschätzt, meint Kaleva:
„Wieder einmal ist ein britischer Premier mit der Entscheidung, eine Wahl auszurufen, einer großen Fehleinschätzung aufgesessen. Wie ihr Vorgänger David Cameron, der siegesgewiss das Referendum über die EU-Mitgliedschaft abhalten wollte, um Großbritannien zu beruhigen, hat May auf dieselbe schicksalhafte Weise an Popularität eingebüßt. … Im Frühjahr sah es nach einem Erdrutschsieg für May aus. Der Abstand zum Gegner lag bei über 20 Prozentpunkten. Dann ist der Vorsprung der Konservativen geschrumpft und die Labour-Partei hat begonnen aufzuholen. Ein knapper Sieg vor Labour wäre eine beträchtliche Niederlage für May. Sie würde zu einem Gleichgewicht [zwischen Tories und Labour] in der Innen- und Außenpolitik, aber insbesondere auch bei der Strategie für die Brexit-Verhandlungen führen.“
Wahl könnte Zerfall des Königreichs einläuten
Für Jutarnji list ist die Wahl historisch, weil sie das Vereinigte Königreich grundlegend verändern könnte:
„Corbyn hat schon mehrfach angedeutet, dass er sich ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum in Schottland vorstellen kann. Die mächtigste Frau Schottlands, Nicola Sturgeon, ließ daraufhin durchsickern, dass eine Koalition mit den 'Rivalen der Tories' nicht ausgeschlossen sei. Für Corbyn ist das keine Option. Aber wenn morgen keine Seite die absolute Mehrheit erhält, gilt eine Koalition von Labour und SNP als sehr wahrscheinlich. ... Was die schottischen Nationalisten in den Koalitionsverhandlungen dann fordern werden, ist sonnenklar: ein erneutes Referendum.“
Abschottung ist gerade jetzt fatal
Isolation ist kein Rezept für Großbritannien, weder in Sachen Terror noch Europa, warnt Die Presse:
„Weil die Bevölkerung nun Zuwanderung fürchtet, wird die Teilnahme am gemeinsamen Binnenmarkt gleich zur Gänze in Frage gestellt. London fährt in alle Richtungen Zäune hoch. Und was da beim Abbruch des liberalen Gesellschaftsbilds geschieht, wird früher oder später auch die Wirtschaft treffen. ... Jetzt, angesichts der Unsicherheit, die Terror und Brexit mit sich bringen, auf Freiheiten zu setzen, wäre für [May] taktisch unklug. Wichtig aber ist, dass sie den emotionalen Anker dafür nicht zerstört. Die Briten definierten sich bisher lieber als Mittelpunkt der Welt denn als isolierte Inselbewohner. Ihr Gestaltungswille hat stets die Fesseln nationaler Grenzen durchbrochen. Sie künftig wirtschaftlich wie sozial in einem abgesicherten nationalen Gehege einzusperren, wäre deshalb fatal.“
Brexit braucht ein zweites Referendum
Selbst wenn Theresa May die Wahl gewinnen sollte, muss sie die Bürger über die endgültigen Brexit-Bedingungen abstimmen lassen, analysiert der Politologe Daniel Innerarity in El País:
„Um den Brexit zu vollziehen, bedarf es nicht nur eines Anfangsmandats, sondern auch der expliziten öffentlichen Zustimmung zu der Art und Weise der Trennung. Daher der erneute Urnengang, der Mays Position zwar quantitativ verbessern kann, aber das Problem nicht qualitativ löst. Die vorgezogene Neuwahl verhindert die zahlreichen Widersprüche nicht und ändert auch nichts daran, dass zu den Ergebnissen der Verhandlungen mit der EU ein zweites Referendum durchgeführt werden muss. Das macht die Angelegenheit komplizierter in einer Zeit, in der die Demokratien zu Basaren geworden sind, auf denen simple Lösungen feilgeboten werden.“
May zerstört Labours Identität
Der Wahlkampf der konservativen Premierministerin ist verheerend für die oppositionelle Labour-Partei, beobachtet Jutarnji list:
„Diese Wahl ist eine hervorragende Gelegenheit für May, Labour ein für alle Mal zu liquidieren. Sie marschiert links, wenn es um Wirtschaftsfragen geht, hält sich aber bei gesellschaftspolitischen Themen stramm rechts. May hat Labour die soziale Kompetenz gestohlen und ihnen nur noch ihr antikapitalistisches Geplärre und ihre esoterischen Politikvorstellungen gelassen. Die Premierministerin hat ihr rotes Kleid angezogen, um linken Wählern die Sinne zu rauben und sie zu verführen, die Tories zu wählen. Es gibt deutliche Anzeichen, dass diese Strategie gelingen wird. Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass es May doch wirklich ehrlich meint. Schließlich ist sie in den letzten 40 Jahren die am weitesten links stehende Konservative Großbritanniens.“
Beim Thema Brexit ist wieder alles offen
The Independent dagegen hält ein enttäuschendes Wahlergebnis für May für möglich, was ihre Verhandlungsposition gegenüber der EU deutlich verschlechtern würde:
„Das Mandat der Regierung wäre weit weniger überzeugend, als es ohne vorgezogene Neuwahl gewesen wäre. ... Eine Folge könnte sein, dass die Initiative von der Regierung zum Parlament übergeht. ... Ob sich genügend Unterhausabgeordnete finden, die bereit wären, die Legitimität des Brexit zu hinterfragen oder ein neues Brexit-Referendum zu verlangen, würde vermutlich von vielen anderen Überlegungen abhängen. Ebenso die Frage, ob die Abgeordneten eine gesetzliche Basis für eine Volksabstimmung über das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen hinbekommen würden - das schlagen ja die Liberaldemokraten vor. Jedenfalls könnten stürmische Zeiten im neu gewählten Unterhaus bevorstehen, die viele Berechnungen der May-Regierung zum Thema Brexit über den Haufen werfen würden.“
Theresa May, der Wendehals
Dass die Tories in den Umfragen nur noch wenige Prozentpunkte vor Labour liegen, hat vor allem mit den ständigen 180-Grad-Wendungen Mays zu tun, findet Il Sole 24 Ore:
„Der Wahlkampf hat sich auf die Persönlichkeit der beiden Parteichefs eingeschossen und vermutlich wird genau das der Premierministerin zum Verhängnis. Zu ihrem wahrlich dürftigen Einfühlungsvermögen gegenüber der Öffentlichkeit kommen fortwährende Gesinnungswechsel. ... Ursprünglich ein Remainer hat sie sich in einen harten und unbeugsamen Brexiter verwandelt; sie schlägt recht bizarre Steuern für die Finanzierung der sozialen Ausgaben für Demenzkranke vor, die sie im Hagel der Kritik sofort wieder zurücknimmt. Sie versucht, die Labour-Wähler mit einer sozialen Lesart ihres Konservatismus zu bezaubern, was im klaren Gegensatz zu den Thatcher-Prinzipien steht, die seit vielen Jahren das Fundament der Tories und des Landes sind.“
Tories und Labour lassen Wähler im Dunkeln
Beide großen Parteien haben sich im Wahlkampf davor gedrückt, Pläne zur Gestaltung des Brexit vorzulegen, schimpft Financial Times:
„Theresa May vermittelt keineswegs Stärke und Stabilität, im Gegenteil, sie wirkt kurioserweise eher zerbrechlich. Sie war nicht imstande, eine glaubwürdige Perspektive zu vermitteln, wie es mit Großbritannien außerhalb des Binnenmarkts und der Zollunion weitergehen könnte - ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Abwägungen, die zwangsläufig Teil der Endphase der Brexit-Verhandlungen sein werden. Die oppositionelle Labour-Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn blieb ebenso vage. Beide Seiten verschrieben sich einer Verschwörung des Schweigens. Das ist in höchstem Maße unbefriedigend. Denn Großbritanniens Austritt aus der EU fällt in eine Zeit großer geopolitischer Unsicherheit.“
Mays leere Drohung gegenüber der EU
In der TV-Debatte zwischen Corbyn und May hat die Regierungschefin ihre Aussage wiederholt, dass kein Brexit-Deal mit der EU besser sei als ein schlechter. May redet Unsinn, schimpft New Statesman:
„Wenn du Güter an EU-Staaten verkaufst oder etwas von ihnen einkaufst, dann bedeutet 'kein Deal', dass deine Lieferungen an den Häfen gestoppt werden. So ist es auch, wenn du Güter an Länder außerhalb der EU verkaufst oder von ihnen Güter einkaufst, die über EU-Staaten zugestellt werden. Warum? Weil die Höhe der Zölle und die Frage, was rechtmäßig über EU-Grenzen transportiert werden darf, nicht geklärt wurden. ... Vergessen Sie die Ansage Theresa Mays, dass Großbritannien bereit und willig ist, bei der Aussicht auf einen 'schlechten Deal' den Verhandlungstisch zu verlassen.“
Anti-Corbyn-Kampagne schadet Tories
Die Tories und ihre Kandidatin May haben die falsche Wahlkampfstrategie, meint The Times:
„Es scheint, als würden die brutalen Angriffe der Konservativen auf den Labour-Chef nach hinten losgehen. Schwankende Labour-Sympathisanten, die diesmal erwogen, erstmals die Tories zu wählen, werden ins Lager von Labour zurückgedrängt. Wähler, denen die populistischen Vorschläge in Jeremy Corbyns Wahlprogramm gefallen, fühlen sich beleidigt. Die Tories wirken mehr und mehr wie echte Rüpel. Mit ihrem Versuch, das Scheitern von Labour aufzuzeigen, machen sie lediglich ihre eigenen Schwächen deutlich. ... Theresa May hat in diesem Wahlkampf ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Das bedeutet, sie wird an Autorität verloren haben, sollte sie als Regierungschef bestätigt werden. Politik muss mehr sein als Angstmache.“
Wahlkampf zeigt Mays Schwächen
Dass die Tories ihre Kampagne voll auf Theresa May ausgerichtet haben, könnte sich angesichts einer Reihe von Patzern der Premierministerin als Bumerang erweisen, meint The Guardian:
„Der Wahlkampf hat Mays Parteifreunden bei den Tories, den Medien und dem Wahlvolk einige ihrer Schwächen deutlicher vor Augen geführt. Das furchtbare Durcheinander, in das sie sich bei der Frage der Betreuung Demenzkranker manövriert hat, war ein Schlüsselereignis. ... May befindet sich nach wie vor auf Siegeskurs. Doch es wird nicht der unangefochtene, triumphale Erfolg, auf den sie vor Beginn des Wahlkampfs gehofft hatte. Ihre Rüstung ist verbeult und deren Schwachstellen wurden einer breiten Öffentlichkeit offengelegt. Ein Wahlkampf, den May darauf ausgerichtet hatte, von den Schwächen ihres Gegners zu profitieren, hat vor allem dazu geführt, ihre eigenen Fehler offenzulegen.“
Tory-Sieg nicht ausgemacht
In diesem verflixten Wahljahr sollte sich niemand auf Umfragewerte verlassen, mahnt El País:
„Wir leben in sehr wechselhaften Zeiten, in denen sich nichts vorhersagen lässt, ein Wahlsieg schon gar nicht. Seit dem Brexit spuckten die Urnen unaufhörlich unerwartete Ergebnisse aus. Trump siegte überraschend, binnen weniger Monate stieg Macron zum französischen Präsidenten auf, Manuel Valls scheiterte gnadenlos bei der Wahl um den Vorsitz der französischen Sozialisten und [Spaniens Sozialistenchef] Pedro Sánchez setzte sich nun wider alle Prognosen und wider den gesamten PSOE-Parteiapparat bei der Urwahl durch. Nun steht die Wahl in Großbritannien an und viele beginnen zu zittern. Vor einem Monat lag Theresa May noch 22 Punkte vor ihrem Labour-Rivalen Jeremy Corbyn. Aber am 21. Mai lief es ihr wohl eiskalt den Rücken herunter, als vier Umfragen das Schrumpfen ihres Vorsprungs anzeigten.“