Wahlkampf verschärft Konflikt Berlin-Ankara
Im TV-Duell hat Herausforderer Martin Schulz Kanzlerin Angela Merkel mit der Forderung überrascht, die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara abzubrechen. Das hatte die SPD zuvor jahrelang abgelehnt. Daraufhin betonte Merkel, dass sie einen Beitritt der Türkei schon immer kritisch gesehen habe. Schlägt Deutschland im Wahlkampf der Türkei die Tür zur EU zu?
Beitritt lässt sich Wählern nicht mehr verkaufen
Die Süddeutsche Zeitung sieht nach dem TV-Duell alles auf den Abbruch der Beitrittsverhandlungen hinauslaufen:
„Tatsächlich sieht es so aus, als würden die Deutschen die anderen wieder einmal vor vollendete Tatsachen stellen. Ganz so ist es aber nicht. Die Tatsachen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan geschaffen. Er hat den Putschversuch missbraucht, um die Demokratie und den Rechtsstaat in der Türkei weitgehend abzuschaffen. ... Die Beitrittsverhandlungen hat er faktisch beendet. Vor der Bevölkerung in Deutschland und anderen EU-Staaten lässt sich die Fortführung dieser Verhandlungen nicht mehr rechtfertigen. Nachdem Schulz sie mit einer totalen Wende der bisherigen SPD-Linie überrascht hatte, zieht auch Merkel vor, das nicht mehr länger zu versuchen. Andere Staats- und Regierungschefs werden es ihr nachtun.“
Erdoğan lacht sich ins Fäustchen
Ein Ende der Beitrittsverhandlungen wäre ein Geschenk für Erdoğan, meint Der Standard:
„Der Stopp der Beitrittsverhandlungen ... ist ein Befreiungsschlag für Erdoğan - weit weniger politische Niederlage als freie Hand für den autoritär herrschenden Staatschef. Keine 'benchmarks' mehr, an denen die türkische Gesetzeslage an europäischen Standards gemessen würde; keine erniedrigenden Überwachungsberichte von Kommission und Europaparlament; keine Reformkataloge, die Punkt für Punkt abgearbeitet werden müssten. Dafür jedoch - so wird es Erdoğan in Reden ausschlachten - eine enorme, nie zu vergessende Ungerechtigkeit dieser Christenunion an dem türkischen Volk.“
Bald gibt es kein Zurück mehr
Vor einer bitteren Enttäuschung für die türkische Opposition warnt L'Echo:
„Ein Abbruch der Verhandlungen dient sowohl den Interessen der Islamisch-Konservativen von Erdoğans AKP als auch denen der europäischen Konservativen. Gewiss will niemand in Europa eine von Erdoğan regierte Türkei aufnehmen. Wir müssen aber aufpassen, dass wir den Point of no Return nicht überschreiten. Die Türkei ist nicht Erdoğan. Und es wäre ein Fehler, der säkularen Opposition in der Türkei jegliche Hoffnung auf einen EU-Beitritt zu rauben. Dadurch würde sich das Risiko erhöhen, dass das Natomitglied in die Hände eines zunehmend radikalen Islam gerät und die Region noch weiter destabilisiert wird.“
Merkel hat kaum Optionen
Nüchtern betrachtet Hürriyet Daily News den angekündigten Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen:
„Die meisten Türken haben sich schon lange damit abgefunden, dass diese Mitgliedschaft nie kommen wird. Anders formuliert: Merkel hat sich in der Vergangenheit nicht besonders stark in dieser Frage engagiert, damit ihre Drohung nun wirken kann. Alles, was sie tun kann, um der Türkei zu schaden - und auch das nur zu einem gewissen Grad - ist, die Weiterentwicklung der EU-Türkei-Zollunion zu verhindern. Ihr Dilemma dabei ist aber, dass deutsche Unternehmen stark in diese Zollunion investiert haben, so dass alle extremen Schritte nach hinten losgehen würden.“