Was bedeutet das Urteil gegen Ratko Mladić?
Das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat Ratko Mladić zu lebenslanger Haft verurteilt. Der ehemalige Armeechef der bosnischen Serben gilt als Hauptverantwortlicher des Massakers von Srebrenica und anderer Kriegsverbrechen. Dennoch fehlt in Serbien noch immer jede Spur einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte, bedauern Kommentatoren.
Serbiens Schuld fällt unter den Tisch
Im Urteil gegen Mladić fehlt eine deutliche Schuldzuweisung an Serbien und die Politik des damaligen serbischen Präsidenten Milošević, findet Novi list und ergründet die Ursachen:
„Dieses Verschwinden von Milošević aus dem Urteil ist wahrscheinlich Resultat der veränderten politischen Umstände, in denen sich das Haager Tribunal kurz vor seiner Schließung befindet. Das Gericht verliert immer offensichtlicher die Unterstützung der westlichen Mächte. ... Denn sie möchten mit Den Haag und seinen Urteilen keinen Druck auf [den serbischen Präsidenten] Vučić ausüben, ihre Schlüsselfigur auf dem Balkan.“
Keine Spur von Bedauern
Der verurteilte Kriegsverbrecher Mladić gilt vielen Serben noch immer als Held, beschreibt der Kolumnist Blagowest Benischew in Trud:
„Einen Tag nach der Urteilsverkündung wurde die kyrillische Transkription im serbischen Wikipedia-Artikel über Mladić kurzzeitig von 'Ratko Mladić' in 'Held Serbiens' umgeändert. Solche Provokationen gehören in Serbien zum Alltag. Als ich mit dem Auto über Serbien nach Bosnien und Herzegowina fuhr, überraschte mich kurz vor der Grenze ein über fünf Meter großes Schild, mitten im Niemandsland, auf dem stand: 'Willkommen in der Republika Srpska'. Ähnliche Schilder sind in Bosnien überall zu sehen, vor jedem Ort von der serbischen Grenze bis nach Sarajevo.“
Konfrontation mit der Vergangenheit
Das Urteil gegen Ratko Mladić kann den Serben helfen, ihre Verbrechen aufzuarbeiten - wenn sie das denn wollen, schreibt Oslobođenje:
„Neun von zehn Serben in Serbien leugnen nicht nur den Genozid in Srebrenica, sondern glauben noch nicht einmal, dass das Massaker an 8.000 bosniakischen Zivilisten ein außerordentliches Verbrechen war. In der serbischen Wahrnehmung existieren Mladićs Opfer überhaupt nicht, weil sie nur als Kollateralschaden eines 'Befreiungskampfes' des serbischen Volkes angesehen werden. ... Denkmäler für Kriegsverbrecher wie Ratko Mladić zu bauen, wird den Serben nicht helfen, die Wahrheit zu sehen. Dahin kann sie nur die Konfrontation mit sich selbst und eine ehrliche Anerkennung ihrer unschuldigen Opfer führen.“
Alle Täter müssen büßen
Auch dort, wo es schwierig ist, muss nach Schuldigen gesucht und für Gerechtigkeit gesorgt werden, mahnt Ilta-Sanomat und ist erfreut über das Urteil:
„Die Idee der Gerechtigkeit besagt, dass Generäle und Politiker ebenso Verantwortung für ihre Schreckenstaten übernehmen müssen wie gewöhnliche Kriminelle. Bisher mussten das jedoch nur wenige Tyrannen und blutige Generäle. Einige der Verantwortlichen sind Fanatiker, die von Nationalismus, Ideologien oder Glauben getrieben werden. Auch Selbstmordattentäter und ihre Auftraggeber fürchten keine Gerichtsurteile. Trotzdem muss Recht gesprochen werden. Denn sonst verschwindet noch die letzte Illusion einer internationalen Gemeinschaft. Die Vollstrecker von Gräueltaten müssen gejagt und vor Gericht gebracht werden, dorthin, wo das Gesetz entscheidet und nicht blinde Rache. Bei Ratko Mladić war dies der Fall.“
Ein Fanal gegen Rassismus
Das Urteil gegen Ratko Mladić ist eine Mahnung an uns alle, führt Der Standard aus:
„Dem Massenmord, den Mladić ausführen ließ, war eine massive antimuslimische Propaganda vorausgegangen. Bosnier mit muslimischen Namen wurden als Extremisten, Radikale und Terroristen bezeichnet. Den Leuten wurde weisgemacht, dass von ihnen pauschal eine Gefahr ausgehe. Angesichts der Vorurteile, denen Muslime in Europa heute ausgesetzt sind, und der wachsenden Anfeindungen gegen sie gilt es innezuhalten. In Bosnien-Herzegowina konnte man bereits in den 1990er-Jahren miterleben, wie gegen bestimmte Gruppen gerichtete Menschenfeindlichkeit geschürt werden kann, damit sie sich über die Jahre verankert und schließlich zum Schlimmsten führt. Das Mladić-Urteil ist daher eine Mahnung an uns alle, Menschen nicht Gruppen zuzuordnen, sondern als individuelle Mitbürger zu sehen.“
Bloß leere Symbolik
Delo bedauert, dass das Urteil nur wenig verändern kann:
„Heute, 22 Jahre nach dem schlimmsten Verbrechen auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg, lautet die wichtigste Frage, was das Urteil den Angehörigen und Nachkommen der Opfer Mladićs gebracht hat. Leider nur wenig mehr als leere Symbolik. Zwar hat einer der hauptverantwortlichen Scharfrichter der Schlächtereien auf dem Balkan seine verdiente Strafe erhalten. Doch wird mit ihm auch die gewalttätige Ideologie, der er so treu folgte und in blutige Tatsachen verwandelte, in Vergessenheit geraten? Noch lange nicht. Während die internationale Gemeinschaft versuchte, dafür zu sorgen, dass die Toten nicht in Vergessenheit geraten, hat sie die Lebenden vergessen. Die Bewohner Bosniens und Herzegowinas sind heute, ungeachtet ihrer ethnischen oder Glaubenszugehörigkeit, Gefangene kannibalistischer Eliten.“
Kriegstreiber hat noch immer Unterstützer
Trotz des Urteils ist Ratko Mladić für manche Politiker immer noch ein Held, schimpft Večernji list:
„Während sich die Medien, selbst die serbischen, nicht auf das Niveau begeben haben, Mladić zu verteidigen, konnten sich Politiker nicht zurückhalten. So hat das Staatspräsidiumsmitglied von Bosnien-Herzegowina Mladen Ivanić, der als gemäßigt gilt verglichen mit [dem Präsidenten der Republika Srpska] Milorad Dodik, Mladić schon Unterstützung bei der Berufung zugesichert, mit der Bemerkung, dass solch ein Urteil zu neuen politischen Spannungen in Bosnien führen könne. Ginge es nach ihm, sollte man wohl Mörder, Vergewaltiger und Diebe freilassen, damit sich die Mitglieder ihrer Familien oder Nationen nicht beleidigt fühlen.“
Abrechnung mit den Serben
Auf ein Ungleichgewicht in der Rechtsprechung des Haager Gerichtshofs macht Rzeczpospolita aufmerksam:
„Die wichtigsten serbischen Militärführer und Politiker wurden dort verurteilt oder sind in einer Zelle gestorben. Nur wenige Vertreter anderer jugoslawischer Völker wurden verurteilt und diese waren von niederem Rang. Dabei war der Jugoslawien-Krieg nicht nur das Ergebnis des serbischen Nationalismus und nicht nur Beispiel serbischer Grausamkeit. Wahrscheinlich deshalb, weil die Serben den Konflikt mit dem Westen verloren haben und ein leichtes Ziel für eine Abrechnung wurden. Das ist allerdings keine Begründung, die es uns erlaubt, beruhigt über die Rechtsprechung auf der Welt nachzudenken.“
EU-Integration jetzt vorantreiben
Das Urteil gegen Ratko Mladić sollte ein Anstoß für die EU sein, die Beitrittsversprechen für die Balkanländer nicht zu vergessen, fordert Il Sole 24 Ore:
„Europa bemüht sich um eine Befriedung des Balkans mit der Aussicht - oder der Illusion - auf eine Integration der Staaten in die Gemeinschaft. Ein Versprechen, das mit Hilfsgeldern in Höhe von hunderten Millionen Euro schmackhaft gemacht wird, gemäß des Mantras des EU-Westbalkangipfels vom vergangenen Juli in Triest: Wo Waren verkehren, verkehren keine Soldaten. … Denn Europa hat mit übereilten Staatsanerkennungen in den 1990er Jahren auf Druck Deutschlands hin zum Zerfall Jugoslawiens beigetragen. Ein Fehler, den man mit militärischen Missionen und Wirtschaftsmaßnahmen wieder gutmachte. Dieses Kapital an Glaubwürdigkeit darf heute nicht vergeudet werden.“