Nächster Anlauf zur Regierungsbildung in Berlin
Die Vorsitzenden von Union und SPD haben am Donnerstagabend gemeinsam mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Möglichkeiten einer Regierungsbildung erörtert. Wie die Regierungssuche genau weitergeht, ist unklar. Kommentatoren sehen die Hängepartie in Berlin als Beleg für die Prinzipientreue der deutschen Parteien und hoffen, dass die neue Regierung stärker den Schulterschluss mit ihren EU-Partnern sucht.
Prinzipientreue statt Machthunger
Mit Erstaunen verfolgt Radio Kommersant FM den erneuten Anlauf einer Regierungsbildung in Berlin:
„Das für uns Interessanteste daran ist, dass sich jede deutsche Partei ganz selbstverständlich vor dem Wähler verantwortlich fühlt und an dem festhält, was sie im Wahlkampf versprochen hat. Diese Prinzipientreue ist zu einem großen Teil der Grund, weshalb man sich nicht einigen kann. Die Bürger wissen nicht nur, für wen sie stimmen, sondern auch wofür. Selbst der Macht zuliebe kann eine Partei nicht ihr Wahlprogramm ändern. Mit Verlaub gesagt, wie wenig erinnert das an unser Parteileben! Wo in allen Schlüsselfragen die herrschende Partei und die sogenannte Opposition gemeinsam abstimmen. Wo die drittgrößte Partei offenbar nicht einmal in der Lage ist, ihre Prinzipien zu formulieren und deshalb nur mit ihrem Namen wirbt.“
Bitte keine Koalition von Betonköpfen
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung plädiert dafür, auch eine Minderheitsregierung in Betracht zu ziehen:
„Tatsächlich hilft die stabilste Regierung dem Land wenig, wenn sie bockbeinig in die falsche Richtung marschiert. Man kann nicht oft genug daran erinnern, dass es nicht gottgegeben ist, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, die Wirtschaft wächst und die Steuern sprudeln. Es kommt vielmehr darauf an, was man daraus macht. Die Unionsführung mit Angela Merkel an der Spitze sollte sich an dem Spruch der Betonwirtschaft orientieren: Das Land muss in seine Zukunft investieren. Eine große Koalition, die Private bevormundet, Arbeit verteuert und Leistungsbereite entmutigt, wäre ein hässliches Betonmonster. Im Vergleich dazu ist die Minderheitsregierung ein brutalistischer Zweckbau mit Verfallsdatum. Da fällt die Wahl leicht.“
Europa braucht aktives Deutschland
Die Suche nach einer neuen deutschen Regierung ist vor allem ein europapolitisches Problem, meint Dániel Hegedűs, Politikdozent an der Berliner Humboldt-Universität, in der Wochenzeitung hvg:
„Die heutige Situation ist weniger eine innenpolitische Krise als vielmehr eine Krise der deutschen Europa- und Außenpolitik. Der Bundestag erledigt reibungslos seine Arbeit, so wie auch die große Koalition als geschäftsführende Regierung ihre Aufgaben verrichtet. ... Doch aufgrund des Fehlens einer Regierungsmehrheit ist Deutschland nicht imstande, seine führende Rolle in Europa auszufüllen - und das zu einem Zeitpunkt, da von Berlin eine markante und aktive Europa-Politik gefordert wäre. Denken wir hierbei nur an die Reformideen von Emmanuel Macron und die Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse in der EU.“
Egozentrismus bringt das Land nicht weiter
Deutschland sollte stärker auf seine EU-Partner zugehen, rät das Wirtschaftsblatt Les Echos:
„Antworten auf die großen Herausforderungen kann ein Land - sei es auch noch so bemüht und erfinderisch - heutzutage nicht mehr allein finden. ... Deutschland hat es dank seiner Tugenden geschafft, sich am europäischen Projekt zu bereichern. Doch das ist nun nicht mehr genug. Um seine Zukunft zu sichern, muss es aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken und den anderen Ländern stets zu predigen, dass es reiche, seinem Beispiel zu folgen. Außerdem muss Deutschland auf europäischer Ebene ein Wirtschafts- und Sozialmodell verteidigen, das anderswo in der Welt angezweifelt wird. Die SPD steht den französischen Thesen offener gegenüber - umso besser. Doch muss davon auch noch die öffentliche Meinung überzeugt werden, die leider immer stärker zu einer Kirchturmpolitik zum eigenen Vorteil neigt.“
Das Dilemma der SPD ist lösbar
Eine linke Neuausrichtung und eine Beteiligung an einer großen Koalition müssen sich für die SPD nicht zwingend widersprechen, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Was ist nun also den SPD-Wählern wichtiger: eine stabile, berechenbare, sozialdemokratisch geprägte Regierung mit Kanzlerin Merkel? Oder das Bekenntnis zur reinen linken Lehre - und dafür keine stabile Regierung? Schwierige Frage. Doch das Dilemma lässt sich auflösen: Die SPD führt die neue Koalition noch viel weiter nach links als die alte - so würden beide Forderungen ihrer Wähler erfüllt. Wie viel wird Merkel für die ihr geschenkte Macht zu zahlen bereit sein?“
Große Koalition steht nicht für Stabilität
Der Wunsch nach Stabilität kann kein Argument für eine Neuauflage der großen Koalition sein, warnt Lidové noviny:
„Angela Merkel setzt jetzt auf eine neue Regierung mit den Sozialdemokraten, was logisch erscheint. Aber das verdient nicht automatisch Beifall, und das aus mehreren Gründen. Gewiss, man würde sich eine Neuwahl ersparen. Aber würde die wirklich die Stabilität untergraben? ... Mit einer großen Koalition würde die AfD stärkste Oppositionspartei und weitere Wähler anziehen. Außenpolitisch und wirtschaftlich bliebe Deutschland zwar sehr stark, aber im Innern würde es instabiler.“
Ausgrenzung der Linken beenden
Wenn SPD und Grüne gemeinsam regieren wollen, müssen sie ihre Vorbehalte gegenüber der Linken als Koalitionspartner über Bord werfen, mahnt Financial Times:
„Die politische Landschaft links der Mitte steht vor einem strukturellen Dilemma. So wie sich die Situation derzeit darstellt, haben die gemäßigten Parteien links der Mitte, die SPD und die Grünen, keine Möglichkeit, eine regierungsfähige Mehrheit zustande zu bringen. Außer, sie geben ihr traditionelles Nein zu einer Zusammenarbeit mit der Linken auf, der linksextremen Partei mit ostdeutschen, kommunistischen Wurzeln. Die ausgesprochen Nato-feindliche Haltung der Partei würde das schwierig machen. Doch eine dauerhafte politische Ausgrenzung der Linken scheint auch nicht länger tragbar zu sein. Sie schränkt die Optionen der Wähler ein.“
Aufopferung für Deutschland
Die SPD befindet sich in einem großen Dilemma, kommentiert Hospodářské noviny:
„Vor einer Woche noch gab es zur Wiederauferstehung der großen Koalition von den Sozialdemokraten ein klares Nein. ... Doch Bundespräsident Steinmeier drängt die SPD und verweist darauf, dass Politiker in der Lage sein müssten, sich zu einigen. ... Die SPD wird also wohl erneut in der Regierung im Schatten Merkels wirken und dafür in vier Jahren womöglich noch heftiger abgestraft werden als zuletzt schon mit tragischen 20 Prozent. Es sieht alles danach aus, als würde die Partei ihre eigenen Interessen denen des Landes unterordnen. Das gibt es nicht so häufig. Deshalb verdient die SPD dafür Beifall.“
Merkels Mühle mahlt nicht mehr
Die Süddeutsche Zeitung hingegen glaubt nicht, dass die SPD fürchten muss, erneut in der großen Koalition zerrieben zu werden:
„In dieser Befürchtung steckt ungeheuer viel Kleinmut. Warum? Die Regierung Merkel IV ist eine Übergangsregierung - so wie die erste Große Koalition von 1966/69 unter CDU-Kanzler Kurt-Georg Kiesinger eine Übergangsregierung war; es folgte die [sozialdemokratische] Regierung Willy Brandt. Das Kabinett Merkel IV wird die letzte Regierung der Angela Merkel sein. Ihre Zeit geht zu Ende, ihre Kraft auch. Der CDU stehen die Nachfolgeränke ins Haus, wie sie die CSU jetzt schon schütteln ... . Merkels Mühle mahlt nicht mehr.“
SPD kann mit der GroKo auch gewinnen
Als unverhoffte Chance nicht nur für die SPD beschreibt Journalist Ferruccio de Bortoli in Corriere del Ticino eine neue große Koalition:
„Die Ära der Kanzlerin neigt sich gen Ende und ein sozialdemokratischer Spitzenpolitiker könnte ihr Erbe antreten. ... Ein Stafettenwechsel in der Halbzeit ist nicht undenkbar. Paradoxerweise scheint hier eine Partei, die geschwächt aus der Wahl hervorging, eine besonders starke Verhandlungsposition zu haben, denn es gibt keine Alternative. … Wenn die Sozialdemokraten nun, statt das Amt des Außenministers das des Finanzministers für sich beanspruchten, könnte sich das Blatt für die Mittelmeerländer wenden, angefangen mit Italien. Macrons Projekt sehnsüchtig erwarteter Reformen, könnte durchstarten. Und Merkel selbst könnte vielleicht in zwei Jahren an der Spitze der EU stehen.“
Allianz von Angeschlagenen
Le Monde wiederum sieht eine Neuauflage der großen Koalition als schlechte Nachricht:
„Die große Koalition, die sich nun abzeichnet, bringt die zusammen, die im September verloren haben, und schickt die Gruppen, die Stimmen dazugewonnen haben, in die Opposition. Die SPD wollte nicht mehr regieren, weil sie fand, dass die regierende Koalition von den Wählern abgestraft worden war. Damit hatte sie Recht. ... Die Sozialdemokraten sind genauso ratlos wie die meisten ihrer europäischen Kollegen, und die Konservativen trauen sich nicht, das Kapitel Merkel abzuschließen. Die große Koalition sieht mehr nach einer Allianz von Angeschlagenen aus als nach einem Siegerteam. Das ist keine gute Neuigkeit, weder für Deutschland, noch für Europa.“