Bremst Merkel Macrons Reformeifer aus?
Frankreichs Präsident Macron hat am Donnerstag bei Bundeskanzlerin Merkel in Berlin für seine EU-Reformen geworben. Diese ließ sich darauf ein, trotz offenbarer Differenzen bis zur Jahresmitte einen Kompromiss zu erarbeiten. Journalisten fragen sich, warum die Bundeskanzlerin so zurückhaltend war.
Merkel unter Druck von innen
Noch vor einem Jahr, als sie Macron zum ersten Mal empfing, zitierte Merkel begeistert Hermann Hesse: "Jedem Anfang wohne ein Zauber inne." Offenkundig ist der Zauber vorbei, mokiert sich der Berlin-Korrespondent von Corriere della Sera, Paolo Valentino:
„Denn niemals zuvor stand Merkel unter derartigem Druck der CDU-CSU, die der Kanzlerin klare Grenzen gesetzt haben, wie weit sie bei der Reform der Eurozone gehen darf. Es galt also, in erster Linie die interne Front zu beruhigen, weshalb Merkel auf nationalen Anstrengungen und der Politik der Haushaltsdisziplin beharrte. ... Fast als wollte sie von der umstrittenen Kernfrage ablenken, hat sie geschickt weitschweifig über andere wichtige EU-Reformen gesprochen.“
Die Refom-Hoffnung ist dahin
Die Bundeskanzlerin hat Macron zwar nicht vor den Kopf gestoßen, aber auch nicht signalisiert, dass sie Macrons Reformideen stützt, stellt die Tageszeitung taz enttäuscht fest:
„Von Merkel hörte man nur Allgemeinplätze. In der EU-Politik gibt es zwei Währungen: Geld und Symbole. In der ersten will Merkel nicht zahlen, in der zweiten kann sie, die Politik als Technokratie begreift, es nicht. Die SPD duckt sich derweil weg. Alarmierend ist, dass die Pro-EU-Fraktion in Deutschland, die nicht glaubt, dass ganz Europa nur scharf auf unser Geld ist, auf ein paar Sozialdemokraten, noch weniger CDUler und die Grünen zusammengeschrumpft ist. Dahin ist die Hoffnung, dass Merkel das Finale ihrer Kanzlerschaft nutzen könnte, um sich, ohne Rücksicht auf Murren in der Union, als weitsichtige Europäerin ins Geschichtsbuch einzutragen.“
Europa braucht mehr Balance
Macron sollte sich den Kampf gegen die deutsche Dominanz in Europa auf die Fahne schreiben, rät Politologe Jean-Christophe Gallien in La Tribune:
„Ganz wie im Fußball des vergangenen Jahrhunderts: Am Ende gewinnen immer die Deutschen. Damit hätten wir eine konkrete Herausforderung für Emmanuel Macron, der Captain Europa sein will und die gemeinsamen europäischen Interessen in einem ausgeglichenen und demokratischeren Europa durchsetzen will. Dafür braucht er eine ernsthafte Einflussstrategie für sämtliche Bereiche und ganz Europa, angefangen beim EU-Parlament, das angemessene Beachtung erhalten und nicht als Versammlung betrachtet werden sollte, in der Wahlkampf nachgeholt wird. Oder schlimmer noch, als Heim für Frührentner.“
Weltfremd und kein bisschen innovativ
Nichts Neues hat das Treffen von Macron und Merkel für Magyar Hírlap gebracht. Beide würden weiterhin die Realität verkennen:
„Merkel und Macron sind sich darin einig, dass die Neuorganisation der europäischen Flüchtlingspolitik ihr wichtigstes Anliegen ist. Sie stellen sich vor, dass, neben dem gemeinsamen Schutz der europäischen Außengrenzen, die Flüchtlinge im Zeichen der 'internen Solidarität' nach einer Quote unter den Mitgliedsstaaten verteilt werden. Daran sieht man, dass die beiden stärksten Mitgliedsstaaten, zusammen mit der Bürokratie in Brüssel, weder zur Anerkennung der Realität noch zur Innovation in der Lage sind. Und auch Kompromisse machen sie nur, wenn eine demokratische Regierung stark genug ist, die nationale Identität, Kultur und Souveränität ihres Landes gegen sie zu verteidigen.“
Die Hürden für jede EU-Reform
Es gibt gute Gründe, warum Reformvorstöße in der EU meist im Sande verlaufen, erinnert Der Standard:
„Der Grundkonflikt bleibt: Angesichts der Sachzwänge müsste Europa viel enger zusammenrücken, denn fast alle Probleme sind heute grenzüberschreitend. Aber die Stimmung der Bürger geht in die andere Richtung. Greift die EU dennoch irgendwo ein, heißt es, Eliten würden über die Köpfe der Menschen hinwegregieren. Tut sie es nicht, dann ist Europa schuld an den ungelösten Problemen. Der EU-skeptische Spin der Regierung Kurz ist hier typisch, aber anderswo ist es nicht viel besser - auch nicht in Frankreich. An diesem Dilemma kann auch Macrons Rhetorik nichts ändern.“
Macron hat die Ideen, Merkel den Rotstift
Macron wird für seine Initiativen von Merkel keine Unterstützung bekommen, erwartet Ilta-Sanomat:
„Wahrscheinlich werden sich die beiden so gut wie möglich als einträchtige und harmonische, am gleichen Strang ziehende Erbauer der Zukunft präsentieren. Aber Macron wird Probleme haben, seine Enttäuschung zu verbergen. Die Weiterentwicklung der Reformprojekte wird weitgehend nach demselben Muster ablaufen wie bisher: Macron wird seine lange und ambitionierte Liste von Maßnahmen vorstellen und Merkel wird den größten Teil der ehrgeizigsten Initiativen mit dem Rotstift von der Tagesordnung streichen. ... Sie kann dies indirekt tun, indem sie diese zunächst unterstützt, aber gleich darauf fordert, dass für die Umsetzung erst die EU-Verträge geändert werden müssen.“
Hoffentlich kooperieren Paris und Berlin weiter
Ein neuer Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutschland ist für Europa unabdingbar, glaubt Delo:
„Russland und andere nicht liberale Staaten treten immer aggressiver auf und im Nahen Osten drohen militärische Auseinandersetzungen. Angesichts dessen müsste Europa und dem Westen klar sein, wie groß die historischen und zivilisatorischen Errungenschaften des Kontinents sind, der einst sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg hat entstehen lassen. Der Behauptung, die Europäische Union sei der wichtigste Garant für Frieden und Wohlstand auf dem alten Kontinent, widersprechen auch die heimischen Nationalisten. Deshalb ist die Kooperation zwischen dem Deutschland der Mitte und Frankreich umso wichtiger. Hoffen wir also, dass es zu vernünftigen wirtschaftlichen und politischen Vereinbarungen kommt.“
Ein proeuropäischer Ruck
Für seinen Kurs erhält Macron Unterstützung von EU-Parlamentariern aus verschiedenen Parteien und Ländern, die einen Gastbeitrag für Le Monde verfasst haben:
„Die proeuropäischen Parteien haben es nicht geschafft, Antworten auf die Fragen unserer Mitbürger zum Nutzen der europäischen Institutionen zu liefern. Da sie unfähig sind, Europa eine Vision, ein menschliches Antlitz zu verleihen, haben sie das Thema Europa denjenigen überlassen, die für dessen Zerstörung eintreten. Frankreich hat das Glück, einen Präsidenten zu haben, der Europa in den Mittelpunkt seines politischen Handelns gestellt hat. … Zweifellos hat es einen proeuropäischen Ruck gegeben. ... Diese Dynamik muss sich nun durch Europa verbreiten, um den unerbittlichen Aufstieg der EU-Gegner zu stoppen.“
Paris und Berlin tauschen die Rollen
Für Berlin haben die EU-Reformen keine Priorität mehr, bedauert El Periódico de Catalunya:
„Man könnte sagen, dass der Impuls für Reformen die Seiten gewechselt hat. Traf Deutschland bis vor Kurzem noch auf den Widerstand aus Paris, vor allem wenn es darum ging, Souveränität an Europa abzugeben, ist es nun Frankreich, das bereit ist, die europäische Souveränität zu erweitern, vor allem um egoistischen Nationalismus und Populismus zu bekämpfen. Macron und Merkel treffen sich morgen in Berlin, um eine gemeinsame Position zu verhandeln, aber die Chancen stehen schlecht. Für Deutschland, das monatelang ohne Regierung dastand, scheint Europa derzeit keine Priorität zu haben.“
Wackelige Bündnispartner
Dass der französische Präsident seine Pläne umsetzen kann, bezweifelt Delo:
„Im Europaparlament hat Macron viel Lob gehört, doch zur Verwirklichung seiner Pläne wird er starke Verbündete in Berlin und anderswo brauchen. Bisher hat er noch niemanden, der ihm folgt. Im Gegenteil, die Zweifel gegenüber seinen Plänen werden im nördlichen Lager immer stärker. Es scheint, als ob Macrons wichtigste Front - trotz großer Worte über die EU - in Frankreich verläuft. Wenn ihm seine Reformen zu Hause gelingen, wird er auf der europäischen Bühne glaubwürdiger und effektiver Bündnisse für eine Reform schließen. Ein zu langes Warten auf mehr guten Willen der europäischen Partner könnte bei Macron zu Frustration führen.“
Euphorisch, aber einsam
Solange Macron eine ganze Reihe von Mitgliedsstaaten ignoriert, wird er die EU-Reform kaum voranbringen, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Wenn Macron für die europäische Souveränität kämpfen will, dann wird dies von vielen Bürgern in Polen, Ungarn, Italien und anderen Ländern nicht als Kampf für sie, sondern als Kampf gegen sie wahrgenommen. Doch das scheint der französische Präsident gar nicht wahrzunehmen. ... [I]n vielen Ländern Europas wird Macrons EU-Integrations-Euphorie nicht geteilt. Die Sorge um die nationale Souveränität und Identität hat vielerorts an Bedeutung gewonnen. Demokratie wird nicht nur in Paris, Berlin und Brüssel, sondern auch in Warschau, Budapest und Rom definiert. Will sich die EU weiterentwickeln, muss sie diese Vielfalt respektieren.“
Aus für die Reformachse Paris-Berlin
Aus Berlin kann sich Frankreichs Präsident kaum noch Unterstützung für weitreichende Reformen der Eurozone erhoffen, analysiert Financial Times:
„Der Begeisterung Macrons für die europäische Integration steht die politische Realität gegenüber, wonach Frankreich und Deutschland nicht länger natürliche Verbündete sind. Die pro-europäischen Parteien Deutschlands befinden sich im Gegensatz zu jenen Frankreichs auf dem Rückzug. Angela Merkels CDU verlor eine Million Stimmen an die FDP und die AfD - beide Parteien vertreten eine politische Linie, die zur Zerstörung der Eurozone führen würde. Im Jahr 2015 stimmten 60 Abgeordnete von CDU/CSU gegen das Hilfsprogramm für Griechenland. Wenn es dieser Tage einen ähnlichen Aufstand geben würde, hätte die große Koalition keine Mehrheit mehr.“
Schlecht für die Eurozone, gut für die EU
Für den Zusammenhalt in der Union ist es gut, dass Macron gebremst wird, erklärt Adelina Marini im Blog euinside:
„Wenn Donald Tusk sagt, dass die Stärkung (nicht die Vollendung) der Bankenunion und die Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus Priorität haben, braucht man sich keine großen Hoffnungen für das Reformpaket zu machen, das im Juni vorgestellt werden soll. Das Zeitfenster für eine Reform der Eurozone hat sich geschlossen. ... Dank der kleineren EU-Mitglieder, die sich dafür eingesetzt haben, dass die Nicht-Euro-Länder die Zukunft der Eurozone mitgestalten dürfen, wurde verhindert, dass sich eine Hochgeschwindigkeits-Eurozone vom Rest der Union abspaltet. Das ist zwar schlecht für die Eurozone - aber gut für die EU.“