Armenien: Die Opposition setzt sich durch
Nach einem Generalstreik und Verkehrsblockaden im ganzen Land hat die armenische Mehrheitspartei zugesagt, am 8. Mai den oppositionellen Anführer der Proteste, Nikol Paschinjan, zum neuen Premier zu wählen. Am Dienstag hatte das Parlament ihn noch abgelehnt. Kommentatoren betonen, dass die Kür eines neuen Premiers keine Neuwahlen ersetzt und beobachten nach wie vor, wie sich Russland in dieser Krise verhält.
Der nächste Schritt müssen Neuwahlen sein
Armenien muss jetzt rasch Neuwahlen organisieren, betont Turun Sanomat:
„Auch wenn am Dienstag ein neuer Ministerpräsident gewählt werden sollte, so müssen doch so bald wie möglich Wahlen abgehalten werden, um die politische Situation zu klären. Nach den Wahlen muss die Regierung ernsthaft etwas gegen die das Land plagende Korruption, die ineffiziente Verwaltung, die Vetternwirtschaft und die Armut tun – Probleme, die unter der Führung Sargsjans entstanden sind. Die Wirtschaft des Landes wächst schnell, aber die Früchte des Wachstums kommen nur ganz wenigen zugute.“
Russland blickt durch die Blase auf Armenien
Politologe Karmo Tüür analysiert in Eesti Päevaleht die Darstellung der Armenienkrise in vielen russischen Medien:
„Die Mentalität des Unterwerfers äußert sich auf die deutlichste und krasseste Weise in der russischen Medienblase. ... Das Volk [in Armenien] ist auf der Straße. Bedeutet das, dass das Volk gegen Russland ist? Nein. ... Die Welt des Unterwerfers ist schwarz-weiß. Du bist entweder für uns oder gegen uns. ... Geistige Freiheit und Verzicht auf die Versklavung sind nicht denkbar. Kleinstaaten, geschweige denn Individuen, haben in der Sicht des Unterwerfers weder die Fähigkeit noch das moralische Recht, der eigene Herr zu sein. Hinter allem stehen die Interessen von Soros / Juden / den Illuminati; die Rede von Menschenrechten und Redefreiheit ist nur ein Vorwand.“
Jetzt nur keine russische Nilpferd-Diplomatie!
Die armenische Führung hat sich an die Macht geklammert, beobachtet Anton Orech von Echo Moskwy - und zieht Vergleiche zu Russland:
„Eine Staatsmacht gesteht nie ihre Fehler ein. Und eine Staatsmacht ist unfähig zu verstehen, dass die Menschen mit ihr unzufrieden sind. Jeden Ausdruck von Unwillen erklärt die Staatsmacht auf irgendeine erdenkliche Weise - nur nicht mit der eigenen Unfähigkeit. Ich spreche jetzt von Armenien, doch es klingt, als ginge es um Russland. In der Tat ist sich die Staatsmacht überall ähnlich, nur die Völker sind verschieden. Jetzt ist die Hauptsache, dass in Armenien alles ohne Blutvergießen ausgeht. Und dass unsere dümmliche Macht nicht der dümmlichen armenischen Macht zu Hilfe kommt. Mit der unserer dümmlichen Macht eigenen Grazie eines Nilpferds verlieren wir sonst im Eiltempo einen unserer letzten Verbündeten - wenn wir ihn uns nicht sogar noch zum Feind machen.“
Wie Georgien oder wie Aserbaidschan?
Armenien steht am Scheideweg, skizziert das Onlineportal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens LSM:
„Es gibt mindestens drei mögliche Szenarien für die zukünftige Entwicklung. Im ersten werden - ähnlich wie im Nachbarland Georgien - auch in Armenien progressive Reformen durchgeführt. Im zweiten gibt es nur kosmetische Veränderungen, wobei im Lande leider alles beim Alten bleibt. Das dritte Szenario würde bedeuten, dass die Schrauben fester angezogen werden - wie in Aserbaidschan, wo die Familie von Präsident Alijew schon längst alles eisern im Griff hat. ... Eine außenpolitische Wende ist unwahrscheinlich und der armenische Oppositionsführer hat schon bestätigt, dass der Staat die Moskau-Bahn nicht verlässt.“
Erinnerungen an Berlin 1989 werden wach
Die Journalistin Anne Applebaum vergleicht in Gazeta Wyborcza die Situation in Armenien mit jener der DDR von 1989. Damals sei die Entscheidung des Grenzschützers Harald Jäger, die Grenze zu öffnen, entscheidend gewesen:
„Das ist eines der klarsten Beispiele dafür, wie Demonstrationen zu einem politischen Wandel führen können: Sie können die Machthaber dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern, ihr repressives Regime aufzugeben und aufzuhören, Gewalt anzuwenden. Ich habe an Jäger gedacht, als der Premier Armeniens sein Land überrascht hat, indem er den Rücktritt eingereicht hat. ... Unabhängig von der politischen Ursache waren die Demonstrationen in Armenien aus dem gleichen Grund erfolgreich wie die in Berlin 1989 und die in Kiew 2014: Sie haben dazu geführt, dass eine Person, die eine Schlüsselposition innehatte, die Rechtmäßigkeit des eigenen Regimes angezweifelt hat.“