Währungskrise überschattet türkischen Wahlkampf
In nur einem Monat hat die türkische Lira 16 Prozent an Wert verloren und das Leben vieler Menschen in der Türkei spürbar verteuert. Eine unangenehme Situation für Präsident Erdoğan, rund vier Wochen vor der Wahl. Deshalb rief er die Bürger nun auf, ihre Dollar- und Euro-Bestände in Lira umzutauschen, um "die eigene Währung zu schützen". Kann das den Kurssturz aufhalten?
Hilflose Appelle des Präsidenten
Erdoğans Aufruf wird wirkungslos verpuffen, ist sich die Süddeutsche Zeitung sicher:
„Recep Tayyip Erdoğan führt sein Land mit harter Hand, doch es gibt einen Bereich, in dem seine Macht endet: den Finanzmarkt. ... [H]ilflose Appelle dürften wenig bringen, denn im Zweifel werden selbst Erdoğan-Anhänger lieber ihr Vermögen sichern. Schon gar nicht werden sich internationale Anleger beeindrucken lassen. Deshalb wird Erdoğan bis zur Wahl wohl noch stärker als bisher gegen ausländische Spekulanten wettern und sie für den Lira-Sturz verantwortlich machen. Als Populist versteht er sich nun mal darauf, Sündenböcke zu suchen.“
Investoren misstrauen Erdoğan-Regime
Den Wertverlust der Lira kann der Präsident mit seinen Appellen nicht aufhalten, glaubt Evenimentul Zilei:
„Das Hauptproblem ist, dass die ausländischen Investitionen durch verschiedene Aktionen der türkischen Verwaltung zurückgegangen sind. Denn die hat einen wichtigen Teil der Medienunternehmen und viele andere Geschäfte mit der Begründung, sie würden mit der Gülen-Bewegung zusammenarbeiten, vom Markt gefegt. Außerdem hat sie Juristen, Militärs und eine Menge westlicher oder türkische Staatsbürger mit Doppelpass für verschiedene Vergehen im Visier. ... Das Ergebnis ist, dass die Investoren misstrauisch sind, welche Perspektive ihre Geschäfte überhaupt haben, wie nachhaltig ihre Investitionen sein können und wie sich die Divergenzen ihrer Länder mit dem Erdoğan-Regime auf sie auswirken können.“
Westen mal wieder der Sündenbock
Ausländische Mächte werden in der Türkei gern einmal beschuldigt, obwohl diese Rhetorik die Krise noch verschärft, beobachtet Hürriyet Daily News:
„Ein Okzidentalismus, der dem Westen für alles Übel die Schuld gibt, und Verschwörungstheorien waren in nichtwestlichen Ländern schon immer populär. Er spiegelt auch die Denkweise der türkischen Regierungspartei wieder. Während die Türkei seit langem unter Strukturschwäche und Misswirtschaft leidet, verschlechtert die Regierungspartei die Wirtschaft zusätzlich: Erstens, weil sie das Land von ihren westlichen Verbündeten entfremdet und so ein Vertrauensproblem schafft. Und zweitens, weil die beiden prominentesten Wirtschaftsberater des Präsidenten Gläubige wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit in Zeiten internationaler wirtschaftlicher Verflechtung sind.“
Ausländische Mächte wollen Türkei einnehmen
Die türkische Regierung macht "äußere Mächte" für den Kurssturz der Lira verantwortlich. Auch für Kolumnist Yiğit Bulut von der regierungstreuen Tageszeitung Star ist klar, wer dahinter steckt:
„Liebe Freunde, es liegt auf der Hand, dass die ökonomischen Dynamiken der Türkei kurz vor den Wahlen insbesondere durch einige ausländische Banken und Institutionen attackiert werden. Sie haben es schon immer getan und sie tun es weiterhin! Was sie heute am Computer machen, haben sie am 15. Juli 2016 schon einmal getan, indem sie die Türkei mit ihren Handlangern und Kollaborateuren einzunehmen versuchten. Wir fürchten uns nicht vor ihnen, wir werden nicht Halt machen und unseren Weg weiter furchtlos gehen!“
AKP stürzt Wirtschaft in den Abgrund
Für den Kursverfall der Lira ist die AKP mit ihrer Wirtschafts- und Geldpolitik verantwortlich, die nicht auf Nachhaltigkeit setzt, kritisiert hingegen Volkswirtschaftler Erinç Yeldan in Cumhuriyet:
„Im Wesentlichen spiegelt die Inflationsrate die Unausgeglichenheit des Arbeitsmarkts wieder. Inflation bekämpft man, indem man die strukturellen Probleme der nationalen Wirtschaft behebt, und nicht durch tägliche Senkungen der Zinsen durch die Zentralbank (also durch eine kurzfristige Politik). Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, möchte ich noch einmal betonen: Die Wirtschaftsführung der AKP mit ihrer unwissenschaftlichen Geldpolitik und einer vom Ausland abhängigen, auf Betonbauten gestützten Wachstumsstrategie zerstört unsere Wirtschaft.“
Drohungen gegen Investoren bringen nichts
Mit seinen Notfallmaßnahmen wird Präsident Erdoğan den Kurs der türkischen Lira kaum auf Vordermann bringen können, prophezeit Financial Times:
„Die Schwäche der Währung dient als eindringliche Warnung davor, dass Erdoğans ungewöhnliche Ansichten und seine launische Politik das Vertrauen der Kapitalmärkte in die Türkei schwinden ließen. Finanzmärkte sind nicht wie die unglückseligen Journalisten, die Erdoğan ins Gefängnis steckte. Ob es ihm gefällt oder nicht: Er ist von der positiven Einschätzung durch die Finanzmärkte abhängig. Nur mit einer realistischen und besonnenen Politik wird er diese wieder überzeugen können.“