Rücktritte lösen britische Regierungskrise aus
Im Streit über den EU-Austritt Großbritanniens ist nach Brexit-Minister David Davis auch Außenminister Boris Johnson zurückgetreten. Beide kritisieren den ihrer Meinung nach zu weichen Brexit-Kurs von Premierministerin May. Während einige Kommentatoren fassungslos sind, dass sich ein Land freiwillig ins Unglück stürzt, hoffen andere, dass sich die EU kompromissbereiter zeigt.
Beispiellose Selbstverstümmelung
Großbritanniens Politikern scheint jetzt erst klar zu werden, was sie ihrem Land antun, meint Večernji list:
„Der Brexit ist ein Beispiel dafür, wie ein Staat sich durch eine politische Atombombe selbst zerstört. Das britische Referendum zum EU-Austritt ist die größte Selbstverstümmelung eines Staats und einer Gesellschaft in Friedenszeiten der Geschichte. ... Die Menschen möchten normalerweise besser leben, doch entschlossen sie sich diesmal, schlechter zu leben, und nun schlagen sich die Politiker damit herum, wie sie die Verschlechterung der Position des eigenen Staats angehen sollen. Wie schlecht wollt ihr es? Total schlecht, mittelschlecht oder weniger schlecht?“
EU darf Bogen jetzt nicht überspannen
Angesichts der Turbulenzen in London sollte sich Brüssel bei den Brexit-Verhandlungen nachgiebig zeigen, rät The Sun:
„Ein grober Fehler [Theresa Mays] folgte dem anderen. Es ging sogar so weit, dass sie ihre Regierungsmitglieder beim Brexit-Treffen am vergangenen Freitag wie ungezogene Kinder behandelte. Jetzt herrscht Chaos. Doch die EU muss die richtigen Schlüsse ziehen. ... Wenn Brüssel jetzt noch mehr Zugeständnisse fordert, wird ein Brexit ohne Abkommen mit der EU viel wahrscheinlicher. Brüssel darf jetzt nicht dem Irrglauben erliegen, dass ein kleines bisschen zusätzlicher Druck den Brexit endgültig verhindern wird. ... Zu diesem muss und wird es kommen. Wenn nicht, wären die Folgen für unsere Demokratie, nationale Stabilität und die freundschaftlichen Beziehungen mit Europa unabsehbar.“
Weicher Brexit verhindert Katastrophe
Dass der Rücktritt der Brexit-Ideologen eine größere Krise verhindert, glaubt Journalist Witalij Portnikow in LB:
„Der Rücktritt von Außenminister Boris Johnson und Brexit-Minister David Davis ist ein weiterer Beweis dafür, dass man zwar jedwede populistische Losung vorbringen, aber sie eben doch nicht immer verwirklichen kann. Die Politiker, die Ideologen des EU-Austritts Großbritanniens waren, sind gezwungen, ihre Posten zu verlassen, um nicht den sogenannten 'weichen Brexit' verantworten zu müssen - also den faktischen Verbleib Großbritanniens im europäischen Raum bei formalem EU-Austritt. Für sie wäre das das schlimmste Szenario. ... Doch nur dieses erlaubt Großbritannien, ohne eine massive politische Krise die EU zu verlassen.“
Johnson spielt mit seinem Land
Die Rücktritte von Davis und Johnson markieren den Beginn von großem Chaos, glaubt Pravda:
„In den kommenden Wochen werden wir sehr wahrscheinlich Zeugen eines Geschwistermordes bei den Konservativen werden. Boris Johnson, der immer auf den Stuhl des Premiers strebte, will Blut sehen. Er hat nicht gezögert, vor dem Referendum den Austritt Großbritanniens aus der EU zu unterstützen und damit mit dem Schicksal seines Landes zu spielen. Er wird auch nicht zögern, seine Mission zu Ende zu bringen. Er kann sich dabei auf die Befürworter eines harten Brexit stützen. Obwohl die nur einen Bruchteil der Tory-Familie ausmachen, sind sie lauter und aggressiver und könnten so den Sieg davon tragen. Großbritannien würde die EU ohne Vertrag verlassen. Dann herrscht richtige Anarchie.“
Der Trailer zum Brexit-Horrorfilm steht schon
Francesco Guerrera, Europa-Chef der Dow Jones Media Group, hält es in La Stampa für möglich, dass May mit einem Misstrauensvotum ihrer Partei konfrontiert wird:
„Dieses gab es auch 1990 für Margaret Thatcher, und wie ihre berühmte Vorgängerin könnte May die Abstimmung zwar gewinnen, doch gezwungen sein zurückzutreten, sollte die Mehrheit als nicht groß genug erachtet werden. Der Sturz der Premierministerin würde mit ziemlicher Sicherheit zu Neuwahlen führen, bei denen Jeremy Corbyns Labour-Populisten sehr gut abschneiden würden. Vorgezogene Wahlen würden es unmöglich machen, vor Ablauf der Frist im April 2019 eine Einigung mit der EU über den Brexit zu erzielen, was zu einem enormen wirtschaftlichen und finanziellen Chaos führen würde. Der gestrige Pfundabsturz ist nur der Trailer zum Horrorfilm des Brexit ohne Einigung.“
Mehrheit der Briten gegen harten Brexit
Die Financial Times warnt die EU-Gegner unter den Tories, einen Putsch gegen Theresa May zu riskieren:
„Einige Parlamentarier könnten es wegen dieser Rücktritte mit der Angst zu tun bekommen und versuchen, einen Hardliner zum neuen Führer zu machen, um so die von ihnen favorisierte Form des Brexit zu erzwingen. Das wäre ein kolossaler Fehler, der kostbare Verhandlungszeit mit der EU verschwenden und kaum etwas bringen würde. Die EU-Gegner, die so einen Kurs in Erwägung ziehen, sollten einige grundlegende Fakten bedenken: Es gibt keine Mehrheit für einen harten Brexit, weder im Land, noch im Parlament. Außerdem haben sie es versäumt, eine schlüssige Alternative für einen geordneten EU-Austritt vorzulegen, ohne dass dabei die schlimmste Option droht: ein Brexit ohne Abkommen mit der EU. Ein solcher könnte einen wirtschaftlichen Schock und administratives Chaos herbeiführen.“
Kompromisslose EU trägt Mitschuld
Für den Abgang der beiden Minister ist auch die EU verantwortlich, findet Delo:
„Die Lage ist unangenehm, nicht nur, weil die EU einen der wichtigsten Ansprechpartner bei den Verhandlungen verloren hat, sondern auch, weil sie mit ihrer kompromisslosen Vorgehensweise die neueste politische Krise in Großbritannien ausgelöst hat, die auch mit dem Fall der Regierung enden könnte. Das wäre das Letzte, was sich die EU wünschen sollte. ... Vermeintlich erleichtern die Rücktritte von Davis und Johnson die Verhandlungen, da die größten Euroskeptiker der Regierung nun weg sind. Doch wird die Sache wohl eher komplizierter werden. ... Dessen sollte sich die EU bewusst sein, bevor sie von ihr neue, politisch untragbare Kompromisse verlangt.“
Dringend die Bürger um Rat fragen
Es muss Neuwahlen geben, fordert die Wiener Zeitung:
„Ein einmaliges, knappes Votum [Brexit-Referendum] ... hat ausgereicht, um alle Sicherungssysteme auszuhebeln: Weder die Regierung noch die Opposition, weder die Zivilgesellschaft noch die Wissenschaft, weder die unabhängigen Medien noch die organisierten gesellschaftlichen Verbände von Arbeit und Kapital haben es vermocht zu verhindern, dass die Wucht dieser einen Abstimmung eine so ungeheure Wirkung entfaltet. In Großbritannien ist es hoch an der Zeit, das zu tun, was geboten ist, wenn die Politik sich hoffnungslos verrannt hat: die Bürger um Rat zu fragen, wohin ihre Gesellschaft sich wenden soll. Es ist Zeit für Neuwahlen.“