Erdoğan kann jetzt allein regieren
Zwei Wochen nach seinem Wahlsieg hat der türkische Präsident Erdoğan am Montag den Amtseid abgelegt. An die Stelle einer parlamentarischen Demokratie tritt damit eine Präsidialrepublik. Am Wochenende waren noch einmal mehr als 18.000 Staatsbedienstete unter dem Vorwurf der Verbindung zu Terrororganisationen entlassen worden. Wohin steuert die "neue Türkei"?
Worauf die türkische Ein-Mann-Herrschaft fußt
Was das System der "neuen Türkei" ausmacht, erklärt Cumhuriyet:
„Das nun in Kraft tretende Regime ist eine hybride Mischung aus Konservatismus, türkischem Nationalismus, Islamismus und persönlicher Bereicherung; es ist explizit an eine individuelle Person gebunden und trägt daher deren Namen. ... In der Geschichte der Republik ist der Erdoğanismus nach dem Kemalismus das zweite vollkommen mit einer Person integrierte autoritäre Regime. Eine weitere Gemeinsamkeit zum Kemalismus besteht darin, dass es ein ehrgeiziges Social-Engineering-Projekt beinhaltet, das einen ihm genehmen Bürger schaffen, vermehren und stärken will. Aber im Erdoğanismus basiert dieses Projekt auf Mittelmäßigkeit. Das ist vielleicht der bedeutendste Unterschied zum Kemalismus.“
Die Rechnung könnte nicht aufgehen
Dass Erdoğans Allmacht ihm auch zum Verhängnis werden könnte, darauf macht die Neue Zürcher Zeitung aufmerksam:
„Mit Widerspruch aus dem Marionettenkabinett muss Erdoğan nun kaum noch rechnen. Auch eine unabhängige Justiz gibt es de facto nicht länger. Im Wahlkampf zeigte sich daher mancher Optimist überzeugt, dass Erdoğan nach gewonnener Schlacht von extremen Forderungen abrücken und zu wirtschaftspolitischer Vernunft zurückfinden würde. Die vergangenen Tage haben diese Hoffnung nicht bestätigt. So hat Erdoğan wenig Zeit verstreichen lassen, um die Zentralbank, wie im Wahlkampf angedroht, stärker unter seine Kontrolle zu bringen. Für ein Land mit ausufernder Inflation und einer Währung im Sturzflug ist das hochriskant. Geht das Spiel nicht auf, trägt allein Erdoğan die Schuld. Das ist die andere Seite seiner nun fast grenzenlosen Macht.“
Diese Türkei hat in Europa keine Zukunft
Die Entlassenen haben hautnah erfahren, dass in der "Neuen Türkei" allein Erdoğan das Sagen hat, beobachtet die Badische Zeitung:
„Mit einem Federstrich entscheidet er über das Schicksal Zehntausender Menschen, ohne Kontrolle durch das Parlament, ohne Rechtsmittel, gnadenlos. ... Die Betroffenen verlieren nicht nur ihre Stelle, sondern ihre Existenz. Weil ihre Namen veröffentlicht werden, sind sie und ihre Familien geächtet. Sie haben praktisch keine Chance, jemals wieder eine Arbeit zu finden. Dieser türkische Präsident wird demnächst in Berlin erwartet. Die Kanzlerin kann ihm nicht die Tür weisen. So schwer es auch fällt, man muss mit Erdoğan reden. Das gebieten die deutschen Interessen in der Flüchtlings-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Aber zur Leisetreterei besteht kein Anlass. Merkel muss Erdoğan in aller Deutlichkeit sagen: Seine Türkei hat in Europa keine Zukunft.“
Entlassungen zwischen Tür und Angel
Wie man es auch dreht und wendet, die Entlassungen sind nicht rechtsstaatlich, klagt Artı Gerçek:
„Die Situation ist aus verschiedenen Perspektiven problematisch. 1. Wenn diese Menschen solch harte Sanktionen verdienen (!), warum wurden sie dann zwei Jahre lang im Staatsdienst behalten? 2. Diese Entscheidung und ihr Timing legen nahe, dass unsere Herrscher ohne sonderlich konkrete Informationen in den Händen, diese harten Sanktionen zwischen Tür und Angel verabschiedet haben. ... 3. Die Tatsache, dass es keine Beweise für die Beschuldigungen gibt, ist rechtlich und moralisch inakzeptabel. ... 4. Wenn die Herrscher hingegen konkrete Beweise für ein Verbrechen in den Händen haben, müssen diese Informationen schnellstmöglich der Justiz übergeben und das Thema vor Gericht gebracht werden. Wenn dies nicht geschieht, bedeutet dies, dass hier eine unglaubliche Willkür herrscht.“
Beziehungen zur EU im Standby-Modus
Die internationalen Beziehungen werden angespannt bleiben, prophezeit Hürriyet Daily News:
„Im Bereich der Außenpolitik bleiben für Erdoğan die Probleme mit den USA, dem größten Verbündeten der Türkei, die größte Herausforderung. ... Die Beziehungen zur Europäischen Union werden mindestens sechs Monate eingefroren werden wegen der Ratspräsidentschaft Österreichs, das die vorderste Front der anti-türkischen Stimmung in Europa bildet. Die Türkei könnte in der Zwischenzeit die nötigen Harmonisierungsschritte durchführen, da sie das EU-Ministerium abgeschafft und mit dem Außenministerium zusammengelegt hat. Migrationsthemen dürften eine Rolle in den Beziehungen zur EU spielen, vor allem nach den jüngsten Schritten Deutschlands.“