Erpresst Salvini die EU mit Abschottungspolitik?
Ein Schiff der italienischen Küstenwache mit 177 geretteten Flüchtlingen hat nach einer Woche die Erlaubnis erhalten, auf Sizilien anzulegen. Zuvor hatte Italiens Innenminister Salvini gedroht, die Flüchtlinge nach Libyen zurückbringen zu lassen, sollten andere EU-Staaten sie nicht aufnehmen. Kommentatoren finden Salvinis Vorgehen schäbig - obwohl sie für sein Anliegen auch Verständnis haben.
Wehrlose Menschen nicht als Geiseln nehmen
Salvinis Forderungen sind richtig, nur die Methode ist schändlich, findet Marco Tarquinio, Chefredakteur von Avvenire:
„ Angesichts der Aushöhlung des 2015 beschlossenen Plans der EU-Kommission zur 'Umverteilung' von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland, ist das Ziel der Regierung Conte, von Europa eine neue und wirksamere Regelung für die gemeinschaftliche Aufnahme von Asylbewerbern und Auswanderern in der EU zu fordern, absolut legitim und vertretbar. ... Nötig ist eine Regel, an die sich alle halten müssen: große und kleine Länder der Union, wobei die ehemaligen kommunistischen und neosouveränen östlichen Länder der Visegrád-Gruppe in keiner Weise ausgeschlossen werden dürfen. Doch es ist unrechtmäßig und beschämend, dieses Ziel zu verfolgen, indem man wehrlose Menschen als Geiseln 'benutzt'.“
Behutsameres Vorgehen ist möglich
Es bieten sich weniger drastische Methoden als die von Italiens Innenminister, um die EU-Partner zum Handeln zu bewegen, kommentiert La Croix:
„Die spanische Regierung hat entschieden, die Flüchtlinge, denen es gelingt, die Straße von Gibraltar zu überqueren, nicht zurückzuschicken. Gleichzeitig ruft sie den Rest der EU zur Zusammenarbeit auf. ... Die aktuelle Lage eignet sich dazu, bedachtsam vorzugehen. Die Anzahl der Ankömmlinge ist in den vergangenen zwei Jahren stark zurückgegangen. Das gilt vor allem für Griechenland und Italien. Der Zuwanderungsdruck betrifft nun eher Spanien. ... Jetzt ist der geeignete Zeitpunkt, um die Diskussion über Verteilungsmechanismen zwischen EU-Mitgliedsstaaten und über die Öffnung von legalen Zuwanderungskanälen direkt aus den Herkunftsländern wieder aufzunehmen.“
Epochaler Bruch mit Europa
Italiens Innenminister könnte es auf ein Zerwürfnis mit der EU ankommen lassen, fürchtet La Stampa:
„Matteo Salvini denkt ernsthaft über einen epochalen Bruch nach. Seit Tagen droht er, alle Neuankömmlinge in ihre Abfahrtshäfen zurückzubringen. ... In Wahrheit ist dies nicht möglich, denn Libyen gilt nicht als 'sicherer Ort' für Asylbewerber. Oder besser gesagt: Es ist eigentlich nicht möglich. Sollte der Minister tatsächlich die Migranten nach Libyen zurückbringen lassen, wäre das der Bruch mit internationalen Konventionen. ... Doch das scheint Salvini wenig zu kümmern. Im Innenministerium hat man sich bereits an die Arbeit gemacht, um die rechtlichen Grundlagen für eine solche Rückführung zu überprüfen.“
Innenminister stellt sich gegen Staatsanwaltschaft
Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelt wegen möglicher Freiheitsberaubung an Bord des Schiffs Diciotti. Daher bewegt sich Salvini auf extrem dünnen Eis, meint der Kolumnist Antonio Polito in Corriere della Sera:
„Um politische Ziele zu erreichen, muss man sich innerhalb der Gesetze sowie nationaler und internationaler Regelungen bewegen. Mehr denn je beim Thema Migration, und erst recht, wenn man Innenminister ist. ... Heute stehen wir vor folgender paradoxen und besorgniserregenden Situation: Die Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen wegen eines Verbrechens - der Freiheitsberaubung von 177 'Geiseln' auf dem Schiff - ein. Für dieses Verbrechen übernimmt der Innenminister offen die Verantwortung, womit er der eigenen Staatsanwaltschaft die Stirn bietet. Das beweist, dass eine schlecht gehandhabte Migrationspolitik zum Bumerang für die Regierung werden kann.“