Sollte Labour den Brexit abwenden?
Seit dem Beginn des Labour-Parteitags in Liverpool schwenken Demonstranten vor dem Konferenzgebäude EU-Flaggen. Sie hoffen, dass die Partei ihre Position ändert und sich für ein erneutes Brexit-Referendum einsetzt. Dieses wollen Umfragen zufolge 86 Prozent der Parteimitglieder. Europas Kommentatoren reden in Sachen Brexit Tacheles und trauern um Großbritanniens einstige Größe.
Erst jetzt wissen die Briten, was Brexit bedeutet
Ex-Premier Tony Blair macht sich in The Evening Standard für einen erneuten Urnengang stark:
„Es spricht nun alles dafür, die Bevölkerung entscheiden zu lassen. Das zu verweigern, wäre tatsächlich Landesverrat. ... Was der Brexit wirklich bedeutet - vom Binnenmarkt, über die Zollunion bis zur Frage der inneririschen Grenze -, ist uns heute so viel klarer. Jetzt dreht sich alles um Fakten, nicht mehr um Behauptungen. ... Die ganze Sache hat sich jedenfalls als viel komplizierter erwiesen, als wir 2016 gedacht hätten. So drängt sich eine Frage ganz klar auf: Angesichts dessen, was wir heute wissen, wünscht sich die britische Bevölkerung immer noch den Brexit oder will sie Teil Europas bleiben?“
Nur EU-Fans werden vom Austritt profitieren
Der Brexit wird die soziale Ungleichheit in Großbritannien verstärken, prognostiziert London-Korrespondent Marc Roche in Le Soir:
„Die großen Sieger des Brexit werden ohne Zweifel die 'Remainers' sein (die, die für den Verbleib gestimmt haben), die in London wohnen und im Süden Englands. Sie werden ihre Stärke demonstrieren, denn Großbritannien wird sich schneller als die EU in Richtung Wissensökonomie entwickeln und seine soft power nutzen, insbesondere die Anziehungskraft, die von der Qualität der Universitäten ausgeht. Die 'Leavers' (die, die für den Austritt gestimmt haben) sind weniger gut ausgebildet, weniger reich, weniger kosmopolitisch. Sie werden die Verlierer sein. Warum es keine Revolte der von der Gesellschaft Ausgeschlossenen geben wird? Das ist britische Tradition. Es gab noch nie eine Revolution, die Ungleichheit wurde immer akzeptiert.“
Großbritannien zerlegt sich vor aller Augen
Was ist aus dem einst so stolzen Flaggschiff Großbritannien geworden, fragt sich Berlingske:
„Zwei Jahre nach der britischen EU-Abstimmung triumphieren in London zynische, kleinkarierte Machtspielchen über den Willen, Verantwortung zu übernehmen. Dies mit anzusehen, ist traurig. Großbritannien hat uns eine starke, liberale Demokratie gegeben. Niemals werden wir die britische Rolle im Zweiten Weltkrieg vergessen - und die Worte Winston Churchills mitten in der Schlacht um England, als die Piloten der Royal Air Force deutschen Luftangriffen standhielten: 'Noch nie hatten so viele so wenigen so viel zu verdanken.' Churchill hatte Recht. Nicht nur England wurde damals gerettet. Aber heute sehen wir nicht mehr viel von einer britischen Führungsrolle. Wir sehen eine Nation, die sich selbst verstümmelt.“
Und ewig lockt der Traum der isolierten Insel
Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp spottet über die Propheten goldener Zeiten nach dem EU-Austritt:
„Nach einem harten Brexit wird London wieder britisch werden. Endlich können wir wieder starke Geschichten über das abscheuliche britische Essen erzählen, die kross gebratene Kotze im Kidney-Pie vor allem. Der Brexit wird Großbritannien wieder britisch machen und die Briten wieder glücklich: eine isolierte Insel, auf der die Menschen süß von vergangenem Ruhm träumen und in Nostalgie schwelgen. ... Vielleicht wird die Premier League wieder eine echte englische Liga mit langen, bleichen Baumstämmen im Angriff und gemeinen, zahnlosen Bolzern auf dem Mittelfeld. ... Der harte Brexit: Anders als so viele Unheilspropheten sehe ich nur Gewinner.“
Chance für Atempause
Sollten sich die Labour-Abgeordneten tatsächlich für eine erneute Abstimmung aussprechen, würden die Karten im Königreich neu gemischt, meint die Süddeutsche Zeitung:
„Denn auch wenn die Premierministerin kategorisch Nein sagt zu einem solchen Votum: Das Parlament, nicht die Regierung bestimmt, ob das Volk erneut an die Urnen gerufen wird. Dafür könnte sich, mit Labours Spurwechsel, eine Mehrheit finden - was natürlich Brüssel zupasskäme. Dabei ist unbestritten, dass eine zweite Abstimmung auch enorme Risiken birgt. Ihre Legitimation wäre hoch umstritten; schließlich hat sich das Volk schon einmal geäußert. ... Die Vorbereitungen würden Monate dauern, obwohl die Zeit drängt. Immerhin: Käme es dazu, würde der Brexit im März 2019 aufgeschoben. Es wäre, es gäbe eine Atempause.“
Nur Referendum zu Breturn ist sinnvoll
Die Briten sollten erst einmal erleben, wie das Leben außerhalb der EU ist, bevor sie über einen Wiedereintritt abstimmen, rät The Sunday Times:
„Nach einem langen Zeitraum außerhalb der EU könnte ein solches Referendum ohne einen Wahlkampf mit Schauergeschichten durchgeführt werden. Millionen Briten hätten praktisch erfahren, wie das Leben innerhalb und außerhalb der EU ist. Und wenn dann etwa in einem Jahrzehnt eine Mehrheit zu der Überzeugung gelangt ist, dass Großbritannien als EU-Mitglied viel besser dran wäre, würde wohl kein vernünftig agierendes Parlament den Menschen die Möglichkeit verweigern, über eine Rückkehr in die EU abzustimmen. Tatsächlich könnte jede politische Partei vor der nächsten oder jeder darauf folgenden Parlamentswahl ein Referendum über einen Wiedereintritt in die EU in ihr Wahlprogramm aufnehmen.“
Wenn, dann in Nordirland abstimmen
Für eine erneute Abstimmung über den Brexit ist The Irish Independent nicht. Das Blatt diskutiert jedoch, ob wenigstens die heikle Frage der inneririschen Grenze gelöst werden könnte, indem die Nordiren in einem Referendum entscheiden, ob sie in einer Zollunion mit Großbritannien oder der EU bleiben wollen:
„Der Vorschlag hat offensichtliche und schwerwiegende Nachteile. Vor allem würde er eine [zwischen Unionisten und Republikanern] bereits gespaltene Gesellschaft noch weiter polarisieren, zumindest kurzfristig. Doch den Menschen in Nordirland die Verantwortung zu übertragen, würde helfen, die Entscheidung in dieser Frage zu legitimieren. ... Eines ist klar: Ein solches Referendum ist keine großartige Idee. Doch eine verzwickte Situation mit nur wenigen guten Optionen kann eine gewagte Vorgehensweise manchmal notwendig machen. Eine solche Abstimmung könnte jetzt die am wenigsten schlechte Option sein.“