Wie erfolgreich war Erdoğans Deutschlandreise?
Der dreitägige Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdoğan in Berlin und Köln ist am Wochenende zu Ende gegangen. Trotz teils scharfer Kritik durch den Bundespräsidenten und die Kanzlerin, zog Erdoğan ein positives Fazit. Doch das war kein Neustart der Beziehungen, meinen einige Kommentatoren. Andere fordern, den Dialog jetzt fortzuführen.
Türkischer Präsident vorerst gescheitert
Aus dem von Erdoğan beabsichtigten Neustart der deutsch-türkischen Beziehungen ist erst einmal nichts geworden, bilanziert tagesschau.de:
„Minutenlang zählte Merkel in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Erdoğan die tief greifenden Differenzen zwischen ihr und dem türkischen Präsidenten auf. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, die inhaftierten Deutschen. Merkel ließ kein Thema aus. Erdoğan allerdings ließ auch nicht erkennen, dass er verstanden hat. Der türkische Präsident hat keinen Neustart der deutsch-türkischen Beziehungen erreicht, er ist vorerst gescheitert. Von einem vereinbarten Vierer-Gipfel zur Lage in Syrien einmal abgesehen, kehrt er mit leeren Händen nach Ankara zurück. Aber er weiß jetzt ziemlich genau, woran er ist. Ob ein Neustart doch noch gelingt, das hat er selbst in der Hand.“
Einladung war richtig
Angesichts der Weltlage ist der Dialog mit der Türkei bedeutsam, kommentiert Sydsvenskan:
„In einer Zeit, in der sich die USA nach innen wenden, ist es besonders wichtig, dass die EU-Länder sich um die internationalen Beziehungen kümmern. ... Und da es keinen Konsens über die Migrationspolitik in der EU gibt, könnte eine neue Flüchtlingswelle in Europa die bereits sichtbaren Brüche zwischen den Mitgliedstaaten erheblich vertiefen. ... Es gibt viele Gründe, energisch gegen die demokratischen Defizite des Erdoğan-Regimes zu protestieren. Merkel hat jedoch richtig gehandelt, als sie ihn zu einem Staatsbesuch mit Schwerpunkt auf politischen Gesprächen empfing. So wie es aussieht, ist es eindeutig besser, mit der Türkei - freundlich, aber bestimmt - zu sprechen, als überhaupt keinen Dialog zu führen.“
Für Deutschland zählt nur eine stabile Türkei
Die Bedrohung der Demokratie in der Türkei ist für Deutschland zweitrangig, glaubt das Internetportal T24:
„Ob die Türkei eine Demokratie ist oder nicht, kümmert Deutschland herzlich wenig. Deutschland betrachtet die Türkei aus dem Blickwinkel seiner eigenen nationalen Interessen und nationalen Sicherheit. ... Für Deutschland war eine stabile Türkei stets wichtig. Ob die Türkei diese Stabilität mit einer zweitklassigen Demokratie, einem militärischen oder zivilen Diktat gewährleistet, spielt für Deutschland keine Rolle. Warum also so viel Lärm? Warum rufen die Spitzenpolitiker Deutschlands so oft nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit? Um in den Augen der demokratischen Öffentlichkeit den Schein zu wahren. Das ist nicht schlecht, aber Demokratie, Justiz und Freiheit sind unsere Aufgabe, nicht die Deutschlands.“
Schwieriger Dialog, gut verpackt
Die Deutschland-Korrespondentin von 24 Chasa, Kapka Todorowa, beschreibt das Treffen als Drahtseilakt für beide Seiten:
„Vom Lira-Zerfall und den US-Sanktionen in die Ecke gedrängt, hat Erdoğan keine andere Wahl, als den Gesprächston zu mildern. Merkel, die von den Erdoğan-nahen Medien häufig mit Hitler verglichen wurde, wird jetzt auf einmal als Heldin dargestellt, die den schwelenden Rassismus in Ostdeutschland bekämpft. … Merkel ihrerseits wird es schwer haben, ihren Wählern das Treffen mit Erdoğan als Dialog mit dem Staatsoberhaupt eines für Deutschland wichtigen Landes zu verkaufen - solange deutsche Staatsbürger wegen ihrer politischen Überzeugungen immer noch in türkischen Gefängnissen sitzen und deutsche Journalisten türkischer Herkunft verhaftet werden.“
Mit Pragmatismus aufeinander zugehen
Der Staatsbesuch ist eine Gelegenheit, in den deutsch-türkischen Beziehungen zumindest zur Vernunft zurückzukehren, meint Hürriyet:
„Da beide Länder und die in Deutschland lebenden Türken von guten Beziehungen profitieren würden, ist abzusehen, dass beide Seiten politisch pragmatisch agieren werden. Beim Thema EU-Mitgliedschaft wird man keine Fortschritte erwarten können, aber bei Themen wie der Weiterentwicklung der Zollunion, den Wirtschaftsbeziehungen und der Visa-Freiheit für türkische Bürger kann man versuchen, etwas zu erreichen. Gleichwohl käme es für uns nicht unerwartet, wenn die Regierung Merkel unter dem Druck der deutschen Öffentlichkeit Reformempfehlungen bezüglich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf die Tagesordnung bringt.“
Warum nicht auch über Gleichberechtigung reden?
Da der türkische Präsident seine Ehefrau mit nach Berlin bringt, könnte Merkel doch das Thema Gleichberechtigung ansprechen, schlägt Der Tagesspiegel vor:
„Nach einem Bericht des Weltwirtschaftsforums über die Gleichberechtigung von Frauen in 134 Ländern nimmt die Türkei den vergleichsweise schlechten Platz 126 ein. Das wäre jetzt was, wenn unsere Bundeskanzlerin die von Erdoğan dringend gewünschte und benötigte Wirtschaftshilfe unter anderem an Fortschritte in dieser Frage knüpfte. ... 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland sind doch auch eine Mahnung; denn auch bei uns steht nicht alles zum Besten. So sind, zum Beispiel, nur sechs Prozent Frauen in Vorständen. Da ist also noch viel zu tun, weltweit, europaweit. Bis hin zur Türkei. Vielleicht hat zumindest Emine Erdoğan ein offenes Ohr.“
Erdoğan entzweit Deutsche und Deutschtürken
Erdoğan hat sich bei seinem Staatsbesuch als erstes mit Deutschtürken getroffen. Mit solchen Gesten tut er den Türken in Deutschland keinen Gefallen, kritisiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Während die Pflege der kulturellen Bande zur Heimat der Vorväter bereichernd wirken kann, kann eine starke Bindung an das Ursprungsland gleichzeitig die Integration in die neue Heimat behindern. Genau das ist das Ziel von Erdoğans Aussenpolitik. ... Diese Haltung treibt gezielt einen Keil zwischen die türkischen Bürger in Europa und die Gesellschaft, in der sie leben. Die Folgen dieser von Erdoğan gewollten und aktiv betriebenen Entfremdung sind gravierend - in erster Linie für die im Ausland lebenden Türken selbst. Keine Bevölkerungsgruppe in Deutschland ist wirtschaftlich und sozial so schlecht gestellt wie die türkischstämmige.“
Der deutsche Spagat
Berlin empfängt den türkischen Präsidenten überraschend freundlich, beobachtet der Deutschland-Korrespondent von De Telegraaf, Rob Savelberg:
„Als ob alles Friede, Freude, Eierkuchen wäre. Als ob Erdoğan in der Vergangenheit nicht die Bundesrepublik als Land von 'Faschisten' dargestellt und behauptet hätte, dass es in Deutschland 'keine Meinungsfreiheit gibt', während er selbst zahllose Journalisten, Aktivisten und Oppositionsmitglieder ohne Anklage ins Gefängnis geworfen hat. ... Es ist ein deutscher Spagat. Einerseits will man den wichtigen Handel mit der Türkei, die unter der Lira-Krise und den amerikanischen Sanktionen leidet, nicht gefährden. Andererseits bleibt die Kritik am autoritären Regime. Daher wird Kanzlerin Angela Merkel morgen auch nicht beim Staatsbankett für Erdoğan teilnehmen. “
Berlin wird Ankara eher heimlich helfen
Sollte die Bundesregierung der Türkei wirtschaftlich unter die Arme greifen, wird man das wohl erst später erfahren, glaubt Hürriyet Daily News:
„Erdoğan kommt zu einer Zeit nach Berlin, in der die Türkei in eine ernste wirtschaftliche Notlage geraten ist. ... Höchstwahrscheinlich wird die Bundesregierung nicht mit großzügigen Angeboten kommen, um die marode türkische Wirtschaft zu retten. Nicht nur weil die deutsche Regierung sich vor öffentlichen Reaktionen fürchtet, sondern weil sie keine Regierung stärken will, die in ihren Augen noch immer deutsche Bürger als Geiseln hält. Aber es wäre nicht verwunderlich, wenn man herausfände, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, dass einige indirekte finanzielle Mechanismen eingeführt werden, um eine 'harte Landung' der türkischen Wirtschaft zu verhindern, was deutschen Interessen widersprechen würde.“
Jetzt über Menschenrechte sprechen
Trotz Pomp und Staatsbankett kommt der türkische Präsident Erdoğan als Bittsteller nach Deutschland, urteilt die Neue Zürcher Zeitung - und ruft die Bundesregierung auf, diese Situation zu nutzen:
„In dieser Lage macht ein vertrauensseliger Entspannungskurs keinen Sinn. Die deutsche Regierung sollte wissen, dass sie jetzt die Chance hat, Gegenleistungen einzufordern für mögliche Wirtschaftshilfen. Das Druckmittel, mit der Kündigung des Flüchtlingsabkommens zu drohen, besitzt Erdoğan nicht mehr. Denn auf die damit verknüpften Milliarden aus Brüssel kann der türkische Präsident heute mit Sicherheit nicht mehr verzichten. Wann, wenn nicht jetzt, wäre also die Gelegenheit, mit Erdoğan über Menschenrechtsverletzungen zu sprechen?“
Es kommen nur die wahren Freunde der Türkei
Einige deutsche Politiker haben angekündigt, nicht am Staatsbankett für Erdoğan teilnehmen zu wollen. Als gute Nachricht feiert das die regierungstreue Daily Sabah:
„Es ist eine positive Entwicklung, dass Parteien wie die Linke oder die Alternative für Deutschland (AfD), die ein Problem für die deutsche Demokratie darstellen, nicht teilnehmen werden. Beim Empfang von Steinmeier im Schloss Bellevue werden wir unsere wahren deutschen Freunde treffen, die den Dialog schätzen und glauben, dass Probleme zwischen den Ländern durch Diplomatie gelöst werden können. Diese Veranstaltung wird auch die türkische Gemeinschaft in Deutschland etwas entlasten. Die Deutschtürken hoffen, dass das Zerwürfnis zwischen Deutschen und Türken der letzten Jahre dank des Treffens zu einem Ende kommen wird.“