Braucht die EU eine Armee?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel haben beide für den Aufbau einer europäischen Armee geworben. Kommentatoren führen aus, warum sich beide Politiker für diese Idee erwärmen und hoffen, dass sie sie bald auch entschlossen verfolgen.
Ein paar Fanfaren reichen nicht
Hoffentlich lassen Merkel und Macron auf ihre Ankündigungen nun Taten folgen, mahnt Massimo Riva in seiner EU-Kolumne in La Repubblica:
„Andernfalls wirken ihre wiederkehrenden Einlassungen zu diesem Thema wie ein Theater, das zwar einen aufrichtigen Europäismus zeigt, dem allerdings die Substanz fehlt. Auf eine supranationale Streitmacht zu setzen, ist ein klares Ziel und ein ausgezeichneter Beitrag zum Aufbau eines vereinten Europas. Doch wenn auf den Fanfarenstoß keine konkreten Schritte folgen, tut man nur den national-populistischen Kräften, die die Auflösung Europas betreiben, ein riesigen Gefallen. Der Europäismus darf nicht nur eine Absicht sein, oder eine Religion, die man nicht praktiziert. Entweder er geht einher mit einem entschlossenen politischen Engagement oder eben nicht.“
Warum Europa einen Sinneswandel vollzieht
Dass Macron und Merkel in diesen Tagen offen das Wort 'Armee' aussprechen, hat mehrere Gründe, beobachtet Milliyet:
„Die Änderung der globalen Sicherheitsarchitektur zwingt die EU, neue Wege zu suchen. Zudem stehen drängende Sicherheitsfragen auf der Agenda. ... Trump, der seine Aufmerksamkeit vor allem auf China richtet, will, dass die EU-Mitgliedsstaaten ihre Verteidigungsausgaben schnell erhöhen. Putins Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine sowie die zunehmende Zahl von Cyberattacken geben ebenfalls Anlass zur Sorge. Der IS-Terror in Nordafrika, Libyen, Syrien und im Irak, der Europa bedroht, ist ein schwerwiegendes Problem. Und nicht zuletzt bleibt der anhaltende Flüchtlingsstrom im Mittelmeerraum weiter auf der Tagesordnung.“
Nur Reden, aber keine Taten
Eine gemeinsame europäische Armee ist derzeit nicht in Sicht, kommentiert Helsingin Sanomat:
„Die Reden von einer gemeinsamen europäischen Armee tragen nicht zu ihrer Gründung bei, denn es gibt keine Projekte, die in diese Richtung führen. Allerdings könnten die Äußerungen die Beziehungen zwischen Europa und den USA schwächen. Russlands Präsident Putin hat Europa denn auch ermuntert, eine eigene Armee zu gründen. Aus seiner Sicht ist das Projekt attraktiv, weil es auch Europa spaltet. Macron und Merkel hingegen versuchen, indem sie von einer gemeinsamen Armee sprechen, die Entschlossenheit Europas zu fördern.“
Gefährlicher Gedächtnisverlust
Die EU geht mit einer europäischen Armee einen Schritt auf Russland zu, schimpft wPolityce.pl:
„Deutschland, Frankreich und andere westliche Länder wollten für die Aufrechterhaltung der Nato nicht so viel zahlen, wie sie sollten, und gleichzeitig schwebt ihnen vor, etwas Neues zu schaffen, das noch dazu vom Kreml unterstützt wird. Die europäischen Möchtegern-Führer haben zu schnell vergessen, dass sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg ohne die Beteiligung amerikanischer Streitkräfte und ohne amerikanische Wirtschaftshilfe für Europa in einer totalen Katastrophe geendet wären.“
Wer Frieden will, wirbt nicht für Militär
Beim Thema Friedenssicherung klaffen Worte und Taten der europäischen Politik weit auseinander, klagt The Irish Times:
„Die Summen, um die es in Europas Rüstungsindustrie geht, sind atemberaubend und lassen Macrons Lieblingsprojekt, das unmittelbar nach den Feierlichkeiten zum Weltkriegsende vor 100 Jahren ins Leben gerufene Pariser Friedensforum, in einem merkwürdigen Licht erscheinen. Dieses Forum findet statt, nachdem die EU zugesagt hat, die Entwicklung vollautonomer Waffen zu finanzieren, die von künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Dazu zählen Drohnen und so genannte Killer-Roboter. Die EU ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Ein Friedensforum abzuhalten und gleichzeitig begeistert für eine EU-Armee zu werben, wirkt ebenso heuchlerisch.“
Neue Chancen für die Nicht-Nato-Staaten
Dserkalo Tyschnja lotet aus, was die Gründung einer europäischen Armee für die Ukraine bedeuten würde:
„Was das Format betrifft, gleicht die europäische Armee, so wie es momentan aussieht, eher einem von den europäischen Strukturen losgerissenen Gebilde, das auf eine verstärkte militärische Zusammenarbeit zwischen einzelnen Staaten Europas abzielt. Natürlich eröffnet das den europäischen Staaten, die weder zur Nato noch zur EU gehören, gewisse Möglichkeiten. Das gilt insbesondere für die Ukraine, die eine reale Chance erhalten könnte, Teil der bewaffneten Kräfte Europas zu werden, zusätzliche Verbündete zu gewinnen und neue Perspektiven zu erhalten. Jedoch ist alles nicht so einfach, wie es scheint.“
Moskau freut sich über schwachen Konkurrenten
Warum Moskau die Idee einer europäischen Armee begrüßt, erklärt Ria Novosti:
„Die Ruhe, mit der Moskau als Hauptstadt einer gegenwärtigen Supermacht auf diesen Wunsch schaut, ist nicht überraschend. Zu offensichtlich ist, dass die anzunehmenden Lokomotiven der europäischen Großmacht ganz unterschiedliche Vorstellungen von dieser Armee haben. Wenn Frankreich möglicherweise in der globalen Arena mit seinen Muskeln spielen will, so wünscht Deutschland in erster Linie, der EU Sicherheit und Stabilität zu verleihen. Und das spricht dafür, dass die 'gemeinsame europäische Armee', wenn sie denn entsteht, kaum handlungsfähiger sein wird als die Nato. Allerdings wird sie weniger von Washington abhängen - und schon deshalb darf man die Perspektive ihrer Entstehung nicht ablehnen.“
Ohne Sowjet-Bedrohung keine westliche Allianz
Das Bündnis zwischen Europa und den USA hält Financial Times ohnehin für anachronistisch:
„Was den 'Westen', so wie wir ihn heute verstehen, entstehen ließ, war die Bedrohung durch die Sowjetunion. Und etwas Vergleichbares gibt es heute (zumindest noch) nicht. Selbst, wenn wir den Beginn der Allianz auf 1917 zurückdatieren, als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, macht dieser Zeitraum in der amerikanischen Geschichte nur einen kurzen Abschnitt aus, in der europäischen gar nur einen winzigen Moment. Wenn die Nato und andere Teile der Architektur des Kalten Krieges nun langsam verfallen, dann ist das nicht nur die Schuld von Donald Trump. Es ist sowieso erstaunlich, dass diese von 1989 bis heute noch so lange fortbestanden haben.“
Vom Friedensprojekt ist wenig geblieben
Statt Visionen für ein friedliches Zusammenleben zu bieten, setzen die EU-Spitzen auf militärische Projekte, kommentiert Artı Gerçek:
„Macron, der junge Hoffnungsträger der Neoliberalen, verkündete die Botschaft zum 100. Jahrestag des Kriegsendes: eine europäische Armee. Die Idee ist nicht neu. Sie gehört zu den Themen, mit denen sich die Europäische Union in den vergangenen Jahren am meisten befasst hat. Dabei wurden schon längst Schritte in diese Richtung unternommen. ... So geht die EU-Armee schon seit langem gegen Migranten vor, die als Europas größte Feinde gelten. Dabei war die Europäische Union einst ein Friedensprojekt. ... Doch die [europäischen] Spitzenpolitiker versuchen erneut, aus einem Krieg Profit zu schlagen. ... Während sie das Ende des Krieges feiern, versprechen sie Milliarden den Tod.“
Verletzung nationaler Souveränität
Für den Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten, Christoph Reisinger, ist Macrons Vorschlag keine gute Idee:
„Tatsächlich hieße europäische Armee ... vor allem eines: Souveränitätsverzicht der Nationen an ihrer empfindlichsten Stelle. Da, wo es um Krieg und Frieden geht. ... Schließlich bedeutet eine 'wirkliche europäische Armee': Über Einsätze entscheidet eine EU-Institution. Nur arbeitsteilig gedacht, bedeutet sie zumindest: Wenn zum Beispiel Deutschland die Fallschirmjäger stellt, dann müssen die verlässlich für alle anderen an einer europäischen Armee beteiligten Staaten zur Verfügung stehen. Selbstverständlich auch für Einsätze, deren Sinn in Deutschland womöglich kaum jemand versteht. Das soll eine Wunschvorstellung sein?“
Trump schaut dann in die Röhre
Ria Novosti geht darauf ein, dass der US-Präsident seit Langem höhere Verteidigungsausgaben von den Europäern fordert:
„Mit seiner Erklärung über eine europäische Armee, die prinzipiell unabhängig von den USA agieren und Europa sogar vor den USA schützen soll, zeigt Macron einerseits die Bereitschaft, Geld für die Verbesserung der europäischen Sicherheit auszugeben (womit er Trump seines Hauptarguments beraubt). Andererseits besteht er darauf, dass diese Mittel in der EU verbleiben und nicht in die Kasse des Pentagon wandern. Washington hat in einem solchen Szenario keine wirklich guten Optionen zur Fortführung der Diskussion. Natürlich könnte man Franzosen und Deutsche als im Militärwesen notorisch untauglich bezeichnen. Aber während so etwas vielleicht beim Wähler in Alabama verfängt, würde es in der EU nur antiamerikanische Initiativen stärken.“
Briten können keinen Schutz erwarten
Falls es zu einer europäischen Armee kommt, wird Großbritannien nichts davon haben, fürchtet The Independent:
„Warum sollte eine EU-Armee ein Interesse daran haben, das Vereinigte Königreich zu schützen, wo doch Brüssel bei den Brexit-Verhandlungen über Zölle, Handel und die Austrittsrechnung immer auf Härte gesetzt hat? Eine sich reformierende EU, für die Macron als Schlüsselfigur steht, will verhindern, dass auch andere Länder auf einen EU-Austritt setzen. Entsprechend ist es unwahrscheinlich, dass Großbritannien weitere Teilnahmemöglichkeiten bei EU-Aktivitäten zugestanden werden, etwa bei der militärischen Zusammenarbeit.“