Gedenken an 100 Jahre Ende des Ersten Weltkriegs
Mehr als 60 Staats- und Regierungschefs haben in Paris des Endes des Ersten Weltkriegs gedacht - unter ihnen Trump, Putin, Merkel und Macron. Frankreichs Präsident warnte vor den Gefahren des wiedererstarkten Nationalismus. 100 Jahre nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands im Wald von Compiègne fragen sich Europas Kommentatoren, ob dieser Tag wirklich ein Grund zum Feiern ist.
Muslimische Welt muss raus aus der Opferecke
Der Nahe Osten wird noch immer von den Folgen des Ersten Weltkriegs geprägt, erinnert Karar:
„Wir sollten begreifen, dass die muslimische Welt die größten Zerstörungen des Ersten Weltkriegs erlebte. ... Die Türkei gehört mit dem Erbe des Osmanischen Reiches zu den am weitesten entwickelten Ländern der islamischen Welt, doch auch hier kämpft man seit Jahrzehnten darum, die 'Geburtswehen des Systems' zu überwinden und den Rechtsstaat auszufüllen. ... Wenn die Gesetzeslosigkeit in unserer Region zum System wird, dann bedeutet das, dass das Problem sehr tief sitzt. In den letzten hundert Jahren hat sich der Imperialismus der Imperialisten nicht geändert. Doch wenn wir unsere Schwächen korrigiert hätten, wäre die Welt eine andere. Darüber sollten wir uns Gedanken machen.“
Der Frieden, der den Holocaust gebar
Kein Frieden hat so viele Katastrophen mit sich gebracht, wie der von 1918, merkt Guillermo Altares, Kolumnist von El País, in einem Gastbeitrag in La Repubblica an:
„Natürlich hat der Waffenstillstand, der den Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren beendete, die Kämpfe beendet - wenn auch nur an der Westfront - und Millionen Männer nach Hause geschickt. ... Was aber 1918 geschah, führte zu einer schrecklichen Mischung aus Gewalt, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust führte. ... Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Vertrag von Versailles war das schlechtest mögliche Friedensabkommen. Tatsächlich war die Demütigung, die Deutschland von den Siegermächten auferlegt wurde, einer der Samen, der als Frucht das Hakenkreuz hervorbrachte. Aber die Probleme hatten schon vorher begonnen, mit der Explosion aller möglichen Nationalismen.“
Wer feiern kann und wer nicht
Für die damaligen Westmächte Frankreich, Großbritannien und USA mag es etwas zu feiern geben, für andere nicht, bemerkt Ria Nowosti:
„Für die einen Länder - etwa Russland - war der Friedensschluss von Compiègne ein bedeutungsloses Geräusch. Erstens, weil Russland am 3. März 1918 den separaten Brester Frieden unterzeichnet hatte. Und zweitens, was noch wichtiger ist: Ende 1918 brach in unserem Land überall der Bürgerkrieg aus. Dass man in den Tälern Flanderns 1918 aufgehört hatte, sich gegenseitig umzubringen, war für die Russen nicht sehr bedeutend. ... Andere Länder, vorrangig die Mittelmächte, also Österreich-Ungarn und Deutschland, hatten auch nichts Besonderes zu feiern. Bei ihnen geschah im November 1918 ein Kollaps der Staatlichkeit, und die Sieger, vorrangig die Franzosen, waren bemüht, den Deutschen nichts als ihre Augen zu lassen, damit sie ihre Niederlage beweinen können.“
Dieser Krieg hat nie geendet
Ob der 11. November 1918 wirklich das Ende des Krieges markierte, stellt Naftemporiki in Frage:
„Warum ist all das passiert? Es ist ein Jahrhundert seit dem Ende des Großen Krieges vergangen und die Unsicherheit, was die Gründe des Blutvergießens betrifft, bleibt bestehen. Es ist kein klassischer Kontrast zwischen 'Gut' und 'Böse', es gab kein 'Monster'. ... War es ein unnötiger Krieg, der die Fakten geschaffen hat, die die heutige Welt geprägt haben? Endete er am 11. November 1918 oder kam in Ost- und Südosteuropa das Massaker nie zu einem Ende, wie es mit den Briten und Franzosen 1918 der Fall war? Und letztendlich: Ist dieser Krieg beendet oder setzt er sich noch im Nahen Osten fort?“
Symbole allein genügen nicht
Angela Merkel und Emmanuel Macron haben im Wald von Compiègne gemeinsam eine Gedenktafel enthüllt. Ein schönes Symbol, meint Le Figaro, mehr aber auch nicht:
„Das Bild des Staatschefs, der auf der Lichtung von Rethondes seinen Arm um die deutsche Kanzlerin legt, wird niemand so schnell vergessen. ... In Europa herrscht seit 70 Jahren Frieden. ... Es ist unabdingbar, diese Tradition zu bewahren, aber nicht für alle ist das selbstverständlich. Die 'Magie des Wortes' hat dennoch ihre Grenzen. ... Der deutsch-französische Motor ist kaputt. Paris und Berlin sind nicht mehr in der Lage, mit starken Initiativen einen Konsens zu erzeugen, um dem europäischen Projekt wieder Sinn zu geben. Es muss etwas geschehen. Symbole heraufzubeschwören reicht nicht, selbst wenn diese sehr mächtig sein mögen.“
Verlogene Friedenskämpfer
Dass die anwesenden Politiker sich für den Frieden in der Welt einsetzen, bezweifelt Delo stark:
„Ein großer Teil der Persönlichkeiten, die gestern das Ende des Ersten Weltkriegs gefeiert haben, ist heute in schmutzige militärische Konflikte verwickelt. Die modernen Konflikte verlaufen zwar nicht an den selben Frontlinien wie zwischen 1914 und 1918. Doch ähneln die Kräfte, die in die modernen Kriege verwickelt sind, zumindest ein wenig denjenigen aus den Jahren des Ersten Weltkriegs. Die zahlreichen Politiker, die in Paris versammelt waren, wecken kein Vertrauen. Die Demonstrantinnen der feministischen Femen-Gruppe, die am Samstag und Sonntag auf die Avenue vor dem Triumphbogen gesprungen sind, hatten einen guten Grund, sich den Vorwurf der verlogenen Friedenskämpfer auf die Brust zu schreiben.“
Ein Kontinent vereint sich um die Gräber
Das Andenken an die Toten lässt Europa auf Dauer den unschätzbaren Wert des Friedens erkennen, hofft El País:
„Die Feierlichkeiten an den Grabstätten zwischen Flandern und der Somme und auf unzähligen Friedhöfen, auf denen eine ganze Generation junger Europäer begraben liegt, zeugen von den wichtigsten Werten, die dieser Kontinent in den vergangenen Jahrzehnten aufbauen konnte. Das gemeinsame Gedenken zeigt die Einigkeit der Politiker, aber vor allem die der Bürger, die hinter diesen Prinzipien stehen, die für immer den europäischen Horizont prägen sollten. Die wichtigste Errungenschaft ist gleichermaßen die offensichtlichste und bedeutsamste: der Frieden. Die alten Schlachtfelder erinnern uns an dessen Zerbrechlichkeit und an die Omnipräsenz des Krieges in der europäischen Geschichte.“
Mit Macron fühlen sich auch Einwanderer als Sieger
Der Frankreich-Korrespondent von Kommersant, Alexej Tarchanow, analysiert, wie Macron die Erinnerung an das Weltkriegsende gestaltet:
„Praktisch geht es dem Präsidenten darum, im gemeinsamen Gedenken die verschiedensten Menschen zu vereinen, die sich im heutigen Frankreich oft nicht sehr nahe stehen - von alteingesessenen Konservativen bis zu Vertretern der 'neuen Franzosen'. Laut Wissenschaftlern finden sich auch unter den Vorfahren vieler heute in Frankreich lebender Immigranten Teilnehmer und Helden des Großen Kriegs. Denn die Großmacht mobilisierte die Bewohner seiner Kolonien. 'Farbige' Einheiten - Araber, Afrikaner, Vietnamesen - trugen ihren Anteil zum Sieg bei. Nicht zufällig ist unter den Staatsgästen, mit denen sich Macron zum 100. Jahrestag trifft, auch Ibrahim Boubacar Keïta, Präsident von Mali, wo viele Nachkommen der Soldaten leben, die für Frankreich in Europa kämpften.“
Die Welt muss zusammenstehen
In Gazeta Wyborcza ruft Lech Wałęsa, ehemaliger Anführer der Solidarność-Bewegung und später polnischer Präsident, zu mehr Solidarität in Europa und weltweit auf:
„Die Stärkung des Staates erfordert den Aufbau von Institutionen und Verfahren. Jahr für Jahr, Amtszeit für Amtszeit, Generation für Generation. Die Geschichte hat uns Zeit geraubt, wir sind ungeduldig. Sowohl in der Zweiten als auch in der Dritten polnischen Republik haben wir uns daran gewöhnt, Abkürzungen zu nehmen. ... Ich würde gerne in einem Polen leben, das von selbstbewussten, ehrgeizigen und gebildeten Demokraten, Europäern regiert wird. Die Veränderung der Welt, Demografie, Klimawandel, wachsende Ungleichheiten, moderne Technologien, der Einsatz Künstlicher Intelligenz: Das sind Probleme, denen wir uns stellen müssen. Und das auf globaler Ebene!“
Zu schnell wird der Nachbar zum Feind
Europas Staaten könnten heute in die gleiche Falle wie 1914 tappen, klagt Nowaja Gazeta:
„Die Menschheit ist ins 21. Jahrhundert genauso gespalten eingetreten, wie sie es vor 100 oder gar 1.000 Jahren war. Die alten Wunden können jederzeit wieder aufreißen. 1914 hat nationalistischer Überschwang und irrationaler Wahnsinn ganze Völker ergriffen. Dann erst wurde die Sinnlosigkeit und Absurdität dieses Kriegs sichtbar, die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber einer staatlichen Maschinerie, die ihn in den Tod schickt. ... Der Große Krieg hat gezeigt, wie leicht man ganze Völker manipulieren kann. Es reicht zu schreien: 'Vernichten wir den hinterhältigen Feind!' Niemand fragt: 'Warum ist mein Nachbar plötzlich mein Feind?'“
Kolonien waren kein Nebenschauplatz
Die Frankreich-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung Nadia Pantel hofft, dass im europäischen Gedenken die ehemaligen Kolonien nicht zu kurz kommen:
„Die Grande Guerre wurde zum Weltkrieg, weil die Europäer ihr Machtstreben auf Afrika, Asien und den Nahen Osten ausgeweitet hatten. Die Kolonien waren nicht nur ein Nebenschauplatz der Kämpfe, ihre Bewohner wurden zwangsrekrutiert oder unter falschen Versprechungen für die Armeen der Besatzer angeworben. ... Unter Macron zeigt Frankreich nun endlich erste Anzeichen, sich offensiver mit seiner Kolonialgeschichte auseinandersetzen zu wollen. Es ist eine späte und zaghafte Auseinandersetzung, doch je länger sie aufgeschoben wird, desto unglaubwürdiger werden die großen Friedensgesten. ... Europas Politiker können nur gewinnen, wenn sie denen, die sie früher unterdrückten, heute einen zentralen Platz in den nationalen Erzählungen einräumen.“
Das beste Europa, das wir haben
Der Brüssel-Korrespondent von De Telegraaf, Ruud Mikkers, beklagt einen Mangel an historischem Bewusstsein in der Diskussion über Europapolitik:
„Heute ist Deutschland ein Musterbeispiel der europäischen Zusammenarbeit. Dennoch gibt es viel Bitterkeit über Merkel. Der Blick auf ihr Erbe wird vor allem bestimmt werden von ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2015 für eine großzügige Flüchtlingspolitik. Sie wusste, dass sie damit zu Hause nicht den Beliebtheitspreis gewinnen würde. Aber der Preis, den man hätte zahlen müssen, wenn sie das nicht getan hätte - ein wahrscheinlicher Zusammenbruch der Union mit allen Folgen - wäre noch größer gewesen. Sie ist also eine Kanzlerin mit großem Verantwortungsbewusstsein. ... Ich weiß auch, dass die Zustände hier in Brüssel oft nicht den Schönheitspreis verdienen. Aber was ist die Alternative? Das historische Bewusstsein fehlt oft in der Debatte.“
Franzosen meiden Polen
Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte auch die Unabhängigkeit für Polen. Dass kein französischer Politiker nach Warschau kommt, um dem zu gedenken, betrübt Rzeczpospolita:
„Die führenden Politiker der Welt, darunter Donald Trump und Wladimir Putin, werden am 11. November, 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, nach Paris kommen. Außenminister Jacek Czaputowicz wird Polen vertreten. Aber niemand kommt an diesem Tag aus Frankreich nach Warschau, und das ist traurig und paradox, wenn man bedenkt, dass Kanzlerin Merkel vor wenigen Tagen einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten in Warschau niedergelegt hat. Denn vor 100 Jahren baute Polen gegen den Widerstand Deutschlands seine Unabhängigkeit auf. Einzig Frankreich unterstützte Polen dabei entschieden.“