Brexit-Deal löst Regierungskrise aus
Nachdem Theresa May den Brexit-Entwurf durch ihr Kabinett gebracht hat, ist die Zustimmung des britischen Unterhauses mehr als ungewiss. Mehrere Minister und Staatssekretäre traten zurück, unter ihnen Brexit-Minister Dominic Raab. Brexit-Hardliner wollen eine Misstrauensabstimmung gegen May durchbringen. Journalisten beschreiben die Zerreißprobe, vor der das Land und seine Regierungschefin stehen.
Eingekeilt zwischen verhärteten Fronten
Die Luft wird knapp für May und ihr Brexit-Abkommen, beobachtet La Razón:
„Fast zwei Jahre nach dem Referendum, das die Scheidung zwischen Großbritannien und der Europäischen Union besiegelte, sieht sich die britische Regierung mit zwei harten Tatsachen konfrontiert, mit denen sie nicht gerechnet hatte: die stoische Einheit der EU-Mitglieder und die Sturheit der europaskeptischen Konservativen, die darauf beharren, dem Geist und dem Inhalt des Referendums gerecht zu werden. In der Mitte steht Premierministerin Theresa May, deren politische Zukunft ebenso wie ihr ausgehandelter Brexit-Deal auf der Kippe stehen.“
Nur ein Spiel der politischen Elite
Von den wahren Konsequenzen ihres Handelns werden die Brexit-Hardliner unbehelligt bleiben, schimpft Die Presse:
„Sie gebärden sich wie verzogene Schulbuben, für die das Schicksal der Nation und ihrer Mitbürger bloß ein Jux, ein intellektuelles Spielchen in einem snobistischen Debattierklub ist. ... Den elitären Brexit-Fanatikern werden die realen Auswirkungen auf Wohlstand und Lebensplanung von Millionen ihrer Mitbürger egal sein. Sie haben sich schon abgesichert: Rees-Mogg [der die Misstrauensabstimmung gegen May vorantreibt] hat vor einigen Monaten still und leise einen zweiten Investmentfonds in Irland gegründet, um weiterhin im Binnenmarkt spekulieren zu können. Boris Johnson wiederum hat bekanntlich für den Tag nach dem Brexit-Referendum vorsorglich zwei Zeitungskommentare verfasst: einen für die EU und einen dagegen. Alles nur ein Spiel, wie gesagt: Hauptsache, man hat seine Schäfchen rechtzeitig im Trockenen.“
May nicht zu früh abschreiben
Warum sich May trotz der Rebellion in den eigenen Reihen als Regierungschefin halten könnte, erklärt Politikwissenschaftler Rob Pettitt in Malta Today:
„Trotz der erheblichen Kritik an Mays Umgang mit dem Brexit, hat ihr bisher keines der politischen Schwergewichte im Lager der EU-Gegner offen den Führungsanspruch streitig gemacht. Außerdem schien es zunächst nicht die nötige Zahl von 48 Tory-Abgeordneten im Unterhaus zu geben, die es braucht, um ein Misstrauensvotum auszulösen. Und selbst wenn es 48 gäbe, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass May eine Vertrauensabstimmung gewinnen würde. Außer jemand anderer bietet sich als möglicher Nachfolger an. Doch das scheint angesichts der Aufgabe derzeit unwahrscheinlich. Das wiederum legt nahe, dass niemand glaubt, es besser machen zu können.“
Mit Cameron wären Briten besser gefahren
Vor dem Brexit-Votum 2016 gab die EU weitreichenden Forderungen des damaligen Premiers Cameron nach, um Großbritannien in der EU zu halten. Mit diesen Absprachen von damals wäre es den Briten weitaus besser ergangen, merkt der EU-Experte Roberto Sommella in Huffington Post Italia an:
„Betrachtet man das Abkommen von Cameron und Tusk von 2016, stellt sich heraus, dass Großbritannien das Recht gehabt hätte, nie der Währungszone beizutreten, keinen Cent für Aktionen zur Rettung anderer Länder hätte zahlen müssen, sich zudem den Verbleib im Binnenmarkt und die Stellung der City als Finanzhochburg gesichert hätte und darüber hinaus unerwünschte Gesetzesinitiativen hätte blockieren können. ... Was vorerst wie ein Kompromiss aussieht, ist für Michel Barnier und seine Brüsseler Kollegen zum Erfolg geworden.“
Dieser Brexit braucht ein neues Votum
Nun, da die Briten genau wissen, was beim Brexit auf sie zukommt, gibt es eigentlich nur noch einen Ausweg, meint Aamulehti:
„Wenn die Briten wirklich vernünftig wären, würden sie sich jetzt hinsetzen, das knapp 600-seitige Austrittsabkommen studieren, die Angelegenheit auf Basis der neuen Fakten besprechen und ein weiteres Brexit-Referendum abhalten. ... Die Kampagne vor dem Brexit-Referendum war geprägt von Unklarheiten und Angstmache. Jetzt wüssten die Bürger zumindest theoretisch besser, welche Folgen und Kosten der Austritt hat. Deshalb sollte noch einmal darüber abgestimmt werden. Großbritannien trifft eine Entscheidung von großer Tragweite, so dass es klug wäre, noch einmal, wenn nicht zweimal, darüber nachzudenken. Wenn weiterhin die Mehrheit für den Austritt stimmt, ist die Entscheidung zumindest überprüft und bestätigt worden.“
Einen besseren Deal wird es nicht geben
Zu dem von May vorgelegten Kompromiss gibt es für die britische Seite keine wirkliche Alternative, meint Kolumnist Tom Harris in The Daily Telegraph:
„Es ist an der Zeit, dass wir diesen langen, scheinbar nicht enden wollenden Prozess zu einem Abschluss bringen. Theresa Mays Abkommen mit der EU scheint da die beste Option zu sein. ... Wir können nicht immer alles haben, was wir wollen. Das bedeutet nicht, dass man sein Scheitern eingesteht, sondern dass man sich mit der Realität abfindet. ... Einen perfekten Deal gibt es nicht, weder für die eine noch für die andere Seite. Und es steht nur ein Abkommen zur Auswahl. Die beiden Alternativen - ein Brexit ohne Abkommen mit der EU und eine zweite Volksabstimmung - würden entweder zu wirtschaftlichem Schaden oder politischem Bürgerkrieg führen.“
Mit dem Kopf durch die Wand
Theresa May steht mit der Abstimmung im Parlament nun die weitaus schwierigere Hürde bevor. Die Brüssel-Korrespondentin von Público, Teresa de Sousa, beklagt die Planlosigkeit der Premierministerin:
„Ihr Motto lautet: 'Alles oder nichts'. Es ist ein Deal, der niemandem wirklich gefällt: weder den Extremisten in ihrer eigenen Partei, noch denjenigen, die bereit sind, bis zum Ende dafür zu kämpfen, dass das Vereinigte Königreich in der EU bleibt. Es ist kaum zu verstehen, warum die britische Regierung und ihre politische Klasse sich in solch eine Situation gebracht haben - bei der die Zukunft von 60 Millionen Briten auf dem Spiel steht und dies praktisch ohne einen klar definierten Plan, ohne klar definierte Ziele und ohne eine konsequente nationale Verhandlungsstrategie.“
Thanks für die Mega-Show!
Bert Wagendorp, Kolumnist von De Volkskrant, freut sich über ein Brexit-Spektakel mit großem Unterhaltungswert:
„Ein großartiges Verhandlungsergebnis, zumindest für die EU. Die ewigen Querschießer sind draußen, aber unter Kontrolle. Der Export bleibt intakt und dann gibt es noch ein hübsches Sümmchen oben drauf. Für die früheren Herrscher der Meere ist das ein Drama. All das Geschrei um den Brexit für nichts und wieder nichts. Sie haben die Mitgliedschaft eingetauscht gegen Gehorsam - Congratulations! ... Spoiler alert: Das Brexit-Spektakel ist noch lange nicht vorbei. Morgen geht es wieder los im Unterhaus. Minister werden zurücktreten und Abgeordnete meutern. Sie werden May des Landesverrats beschuldigen. Die Nordiren werden querschießen, und Boris wird versuchen, May einen Dolch in den Rücken zu stoßen. Das wird ein Genuss.“
Niemand hört auf Anti-Brexit-Mehrheit
Obwohl in Umfragen der Verbleib Großbritanniens in der EU inzwischen eine Mehrheit hätte, ist die Entscheidung für den Brexit wohl endgültig, kritisiert der Kurier:
„Das Referendum wurde seinerzeit von David Cameron ohne Not vom Zaun gebrochen. ... Der Schreck in der Auszählungsnacht saß tief - mit dem Ergebnis (51,9 Prozent pro Brexit) hatte kaum wer gerechnet. Es kam zustande, weil vor allem die Jungen nicht damit gerechnet hatten und nicht abstimmen gingen. Jetzt wachsen immer mehr Junge nach. Und fürchten um ihre Zukunft, wenn die eine ohne Europa sein sollte. Sie melden sich von Umfrage zu Umfrage zu Wort - und keiner will’s hören. Obwohl 'demos' in Demokratie eigentlich Volk bedeutet. Freilich: Würde Theresa May unter einem Vorwand noch einmal abstimmen lassen, wäre sie politisch tot. Das ist die Realpolitik - die mit der Realität halt oft wenig zu tun hat.“
Der Showdown beginnt
Für May fängt der Kampf jetzt erst richtig an, prognostiziert London-Korrespondentin Bettina Schulz für Zeit Online:
„Zunächst muss Premierministerin Theresa May ihr Kabinett von dem Vertragstext überzeugen. Das wird schwer. ... Im Kabinett und im Parlament ist Widerstand gegen eine von der EU diktierte Version des Vertrages seit Wochen deutlich formuliert worden. In den nächsten Stunden wird es umso mehr Kritik, Rücktrittsdrohungen und Angriffe gegen May geben. Aber die Zeit fehlt für eine Alternative. Je näher der Termin des März 2019 rückt, desto weniger plausibel ist es, einen anderen Vertrag auszuhandeln; desto absurder wäre es, Theresa May als Premierministerin noch gegen einen Hardliner auszutauschen. Je knapper die Zeit wird, desto weniger lässt sich vor März 2019 auch eine zweite Volksabstimmung organisieren.“
May kann zwei Trümpfe spielen
Die britische Premierministerin hat zwei sehr überzeugende Argumente für die Zustimmung zum Brexit-Deal in der Hand, erklärt NRC Handelsblad:
„Sie wird versuchen, die Brexiteers zu überzeugen, dass es eine Wahl ist zwischen einem in ihren Augen schlechten Brexit oder einem Sozialisten in Downing Street 10. ... Sie wird die Tories darauf hinweisen, dass die Konservativen 13 Jahre lang in der Opposition saßen, nachdem John Major 1997 gegen Tony Blair verlor. ... Zugleich wird May auf die Uhr zeigen. Die Zeit drängt. Je länger das Unterhaus sich sträubt, je größer die Chance eines No Deal. Dann entscheidet sich das britische Parlament bewusst dafür, dem Land weh zu tun. ... Wollen die Politiker, sowohl Labour als auch Konservative, ihren Anhängern erklären, warum sie dem zustimmten, wird May rhetorisch fragen.“
Schreckgespenst Corbyn vereint Tories
Am Ende werden auch die Kritischsten unter den Konservativen dem Deal zustimmen, glaubt auch der Londonder Korrespondent von Corriere della Sera, Luigi Ippolito:
„In den Reihen der Regierung ist das Unbehagen groß. Ex-Außenminister Boris Johnson hat ausdrücklich zur Meuterei aufgerufen. ... Doch selbst wenn es einige Abtrünnige geben sollte, dürfte es der Premierministerin gelingen, die Zielgerade zu erreichen. Anders sähe es aus, käme es tatsächlich zum allgemeinen Aufstand. Das ist ein jedoch eher unwahrscheinliches Szenario, denn die Alternative wäre ein No-Deal, ein Brexit ohne Abkommen, oder eine Regierungskrise mit der Gefahr vorgezogener Wahlen und einem Sieg von Jeremy Corbyns Labour-Partei. Ein Gespenst, das in der Lage ist, alle Konservativen zu vereinen.“
Peinlicher Abtritt von der Weltbühne
Die Art und Weise, wie sich die britische Politik im Brexit-Prozess präsentierte, schockiert Kolumnist Frank Coughlan in The Irish Independent:
„Was auf das Brexit-Referendum folgte, ist noch verblüffender als das Ergebnis der Abstimmung selbst. Wie konnte ein Land, das sich einst brüstete, ein Weltreich zu sein, in dem die Sonne nie unterging, ein Komplott schmieden, um seinen EU-Austritt derartig unglücklich zu verhandeln? Ich weiß schon, viel ist einem Bürgerkrieg unter widerlichen Tory-Ultras geschuldet, von denen viele abgekoppelt vom Rest der Gesellschaft steinreich sind und die das Thema schlicht als ideologischen Bedeutungsstreit sehen. Doch das erklärt nicht die Inkompetenz und Arroganz, die Großbritanniens Abtritt von der Weltbühne zugrunde liegt.“