INF: Ist Rüstungskontrolle bald Geschichte?
Die Nato hat Russland erstmals geschlossen vorgeworfen, das Abkommen zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen zu verletzen. Die USA stellten Moskau zudem ein Ultimatum von 60 Tagen, um seine Verpflichtungen doch noch zu erfüllen. Putin droht indes mit Aufrüstung, sollten die USA sich aus dem Abkommen zurückziehen. Kommentatoren befassen sich mit möglichen Folgen des Streits.
Zwanzig Minuten bis zur Apokalypse
Eine Stationierung US-amerikanischer Raketen in Osteuropa würde die Gefahr einer unbeabsichtigten atomaren Eskalation schlagartig erhöhen, warnt Iswestija:
„In letzter Zeit laden Politiker einiger russischer Nachbarstaaten immer dringlicher das US-Militär auf ihr Territorium ein. Den Wunsch nach US-Basen äußerte man unter anderem in Warschau und nach der Provokation von Kertsch auch in Kiew. ... Sollten die USA aus dem INF-Vertrag aussteigen und russische Nachbarländer die Stationierung von Mittelstreckenraketen zulassen, tritt die Welt in den Zustand '20 Minuten bis zum Krieg' ein. Das ist ein Schwellenwert: In so kurzer Zeit ist es unmöglich, eine Bedrohungslage richtig einzuschätzen. Jedes Signal für einen Start auf der anderen Seite würde als reale Bedrohung gewertet - mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.“
Europa braucht nukleare Abschreckung
Ohne INF-Verträge stünde Europa schutzlos da, analysiert der ehemalige Diplomat Stefano Stefanini in La Stampa:
„Das Gespenst eines Atomkriegs kehrt nach Europa zurück. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, das Risiko zu entschärfen: Abrüstung und/oder Abschreckung. Die Europäer kontrollieren erstere nicht und haben sich bei letzterer immer auf die USA verlassen. Die amerikanische Atomgarantie, die in Artikel 5 der Nato verankert ist, ist der Pfeiler der europäischen Sicherheit. Nun läuft Europa erstmals Gefahr, ohne glaubwürdige nukleare Abschreckung auskommen zu müssen. ... Sollte Russland auf die Forderung [die INF-Verträge einzuhalten] nicht eingehen, werden die Europäer darüber nachdenken müssen, eine eigene nukleare Abschreckung aufzubauen. Auf die USA werden sie nicht mehr zählen können.“
Gefahr der unbegrenzten Aufrüstung
Die Süddeutsche Zeitung betrachtet die Chance auf eine Einigung im Konflikt als ziemlich gering:
„Russlands Verstöße gegen den INF kommen den Falken in Washington zupass, denn als wichtigsten strategischen Konkurrenten betrachten sie längst China - eine Atommacht, die nicht durch den INF gebunden ist und mit Mittelstreckenraketen US-Stützpunkte und Verbündete in Asien bedroht. ... Nicht einmal die Verlängerung des 2021 auslaufenden New-Start-Vertrags zwischen Russland und den USA zur Begrenzung strategischer Atomwaffen ist sicher. Damit wären die Atomarsenale der beiden einstigen Supermächte erstmals seit 1972 ohne jegliche Limits. Das würde einem Zusammenbruch der einst auf vielen Pfeilern gebauten Architektur der Rüstungskontrolle gleichkommen. Wenn sich dazu Nordkorea als weitere De-facto-Nuklearmacht etabliert, gerät auch der Atomwaffensperrvertrag ins Wanken.“
Ein Eigentor der USA
Mit einem Ausstieg aus dem INF würden sich die USA ins eigene Fleisch schneiden, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Die Entwicklung eigener atomarer Mittelstreckenraketen käme das Land überaus teuer zu stehen und zwänge es, in seinem Rüstungsbudget an anderen Orten Abstriche zu machen. In einer Zeit, da die USA Mühe haben, genügend Mittel aufzubringen, um auf den Dominanz-Anspruch Chinas in Ostasien zu antworten, wäre es eine seltsame Prioritätensetzung, in Mittelstreckenraketen in Europa zu investieren. Ohnehin sehnt sich in Westeuropa kein Land danach, sein Territorium für die Stationierung solcher Waffen zur Verfügung zu stellen. Was als Zeichen der Stärke gedacht war, könnte sich am Schluss vielmehr als Schwächung entpuppen.“
Putins Säbelrasseln erfordert deutliche Antwort
De Telegraaf sieht die Schuld eindeutig bei Russland:
„Erneut sind es die Russen, die Anlass zu einem neuen atomaren Wettrüsten geben. Die Entwicklung und Einführung der SSC-8-Rakete mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometer ist im INF-Vertrag verboten. Doch Moskau spielt, wie so oft, das Unschuldslamm. ... Die Nato wird nun über Folgeschritte beraten, wenn die Russen das Untergraben der Rüstungskontrolle fortsetzen und die USA zu Recht die Konsequenzen ziehen und aus dem Vertrag austreten. Das bedeutet im äußersten Fall die Stationierung neuer Raketen als Gegengewicht. Das Säbelrasseln von Putin darf nicht unbeantwortet bleiben.“