Brexit: Soll die EU nachgeben oder hart bleiben?
Nachdem sich das Unterhaus sowohl gegen einen ungeregelten Austritt als auch gegen die Garantie einer offenen Grenze in Irland ausgesprochen hat, fordert Theresa May Nachverhandlungen zum Brexit. Spitzenvertreter der EU wiesen dies umgehend zurück. Doch hinter den Kulissen berät man über Handlungsoptionen. Europas Presse debattiert, ob das Brexit-Paket noch einmal aufgeschnürt werden sollte.
Verantwortungslosigkeit regiert auf beiden Seiten
Die EU muss ihre harte Position überdenken, fordert Edgar Almeida in Público:
„Nicht nur viele britische Parlamentarier und Amtsträger verhalten sich verantwortungslos, sondern auch ihre EU-Kollegen. Diese Verantwortungslosigkeit ist typisch für diejenigen, die sich vor den schädlichen Auswirkungen eines ungeregelten Austritts geschützt fühlen. ... Die kompromisslosen Austrittsbedingungen, die mit der EU verhandelt wurden, sind meines Erachtens nicht die bestmöglichen für alle beteiligten Parteien. ... Wenn das Hauptargument gegen kooperative Verhandlungen mit London die Sorge ist, dass andere Staaten eventuell unter denselben Bedingungen austreten wollen, ist es vielleicht an der Zeit, sich ein für alle Mal die geistige Verfassung der EU genauer anzuschauen.“
Ohne Backstop ist kein Deal möglich
Die Briten sollten endlich einsehen, dass der Backstop nicht zur Debatte steht, schimpft Trud:
„Das Verhalten der britischen Politiker seit dem Beginn der Brexit-Verhandlungen und insbesondere in den letzten Wochen hat gezeigt, warum Garantien über die [offene] Grenze mit Nordirland vertraglich bindend für Großbritannien sein müssen. Das müssten sogar die Briten irgendwo tief in ihren Dickschädeln begreifen. Abgesehen davon steht zum Brexit-Finale noch ein Hindernis, dessen Existenz London sicherlich mal wieder vergessen hat: Angenommen, die 27 EU-Mitglieder erklären sich bereit, die Backstop-Klausel zu ändern, was höchst unwahrscheinlich ist, hat das letzte Wort immer noch das EU-Parlament. Und das wird niemals einen Deal ohne Rechtsgarantien über den Status und die Grenze Nordirlands zulassen.“
Bitte nicht in ungeregelten Brexit schlittern!
Auf eine bedachte Entscheidung der EU hofft Delo:
„Die chaotische Politik Großbritanniens der vergangenen Wochen, gepaart mit Populismus und Unverständnis für das Funktionieren der EU, mahnt zur Vorsicht. Die zahlreichen Warnungen vor einem ungeregelten Brexit basieren auf der Feststellung, dass man für seine Verwirklichung keine Entscheidungen treffen muss. Auf der langen Liste der möglichen Wege aus der EU ist es allein der ungeregelte Brexit, der einfach geschieht, wenn keine andere Wahl getroffen wird. Doch die Folgen wären völlig unvorhersehbar. Niemand kann voraussagen, was an der irischen Grenze oder beim Warentransport über den Ärmelkanal passieren wird.“
EU darf sich nicht zur Lachnummer machen
Brüssel muss jetzt hart bleiben, meint Analyst Cristian Unteanu auf seinem Blog bei Adevărul:
„Am Mittwoch haben Donald Tusk und Jean-Claude Juncker vor dem EU-Parlament erneut deutlich gemacht: 'Das Ausstiegsabkommen ist und bleibt das beste Mittel eines geordneten Rückzugs Großbritanniens.' ... Punkt. Schluss. Aus. Im Prinzip scheint es absolut unmöglich, dass die EU eine Neuverhandlung des Abkommens akzeptieren kann, ohne sich völlig lächerlich zu machen und ihre Glaubwürdigkeit und Autorität auf internationaler Ebene zu verlieren. Damit liegt die gesamte Verantwortung für die endgültige Entscheidung beim britischen Parlament, wo es Mitte Februar praktisch die letzte Chance gibt, eben doch das ursprüngliche Abkommen anzunehmen. Vermutlich wird das Parlament das Abkommen aus Verzweiflung billigen, wenn nicht sogar ein zweites Referendum zur letztmöglichen Rettungsvariante wird.“
Neuverhandlung oder No Deal
Für die taz ist jetzt die EU gefragt:
„[Es ist] weder akzeptabel noch vernünftig, einfach darauf zu beharren, dass keine Nachverhandlungen möglich sind, so wie es die EU in ersten Reaktionen getan hat. Nachverhandlungen sind immer möglich. Es ist eine Frage des politischen Willens. Im Moment zeigt die britische Seite großen Willen - und die europäische Seite überhaupt keinen. Die Optionen auf dem Tisch sind jetzt klar. Entweder der Deal wird in einer Weise verändert, die eine Ratifizierung durch beide Seiten - dazu gehört eben auch das britische Parlament - ermöglicht. Oder er wird nicht ratifiziert, und dann folgt ein No-Deal-Brexit. Europa hat die Wahl.“
Europafeinde nicht bestätigen
Unnachgiebigkeit könnte die EU teuer zu stehen kommen, warnt Teresa de Sousa in Público:
„Viele EU-Regierungen sehen möglicherweise keinen Vorteil darin, ihren Wählern ein Bild von Unnachgiebigkeit zu vermitteln. Das gilt umso mehr, als dass die Europawahlen näher rücken, die über die Zukunft Europas entscheiden werden. ... Im Falle eines Brexits ohne Deal würden antieuropäische und nationalistische Bewegungen die Unnachgiebigkeit der EU anprangern als Beweis für die Brüsseler 'Diktatur'. ... Die EU-Entscheidungsträger sollten deshalb mögliche Alternativen in Betracht ziehen - vom Verschieben des Austrittsdatums bis hin zu einer teilweisen Neuverhandlung. Irgendwann muss die perverse Logik durchbrochen werden, nach der des 'einen Stärke des anderen Schwäche ist' und umgekehrt.“
Wo die EU schon mal eingelenkt hat
Die EU war immer wieder kompromissbereit, wenn es darum ging, einzelne Mitgliedstaaten zum Einlenken zu bewegen, erinnert Financial Times:
„Einige EU-Vertreter haben eingeräumt, dass außerhalb des britischen Austrittsabkommens Zusicherungen gemacht werden könnten, die klarstellen, dass der irische Backstop keine Dauerlösung sein soll. ... Es gibt Präzedenzfälle, die deutlich machen, was Theresa May erreichen könnte. Als vor einem Jahrzehnt der Lissabon-Vertrag umgesetzt wurde, erhielt Tschechien in letzter Minute ein Zugeständnis bei der Grundrechte-Charta, um eine Ratifizierung möglich zu machen, ohne den Vertrag neu verhandeln zu müssen. Auch im Fall Dänemarks erwies sich die EU als flexibel. Dem Land wurde erlaubt, den Maastricht-Vertrag nicht in allen Punkten umsetzen zu müssen, nachdem die dänischen Wähler den Vertrag bei einem Referendum 1992 abgelehnt hatten.“
Kreativität in letzter Minute gefragt
Die Unterhändler müssen nun nochmal in alle Richtungen denken, meint Helsingin Sanomat:
„May kann den Abgeordneten das Blaue vom Himmel versprechen, aber das ändert nichts an einer für Großbritannien unangenehmen Tatsache: Die EU will das Austrittsabkommen nicht wieder aufschnüren. ... Die Zeit drängt, wenn man einen harten Brexit verhindern will, auch ist noch mehr Kreativität nötig. Wie verhandelt man den Vertrag neu, ohne ihn wirklich neu zu verhandeln? Darüber müssen sich May und die EU-Unterhändler Gedanken machen. Wäre eine Möglichkeit beispielsweise ein juristisch bindendes Zusatzprotokoll, bei dem noch einmal versucht wird, die Bedingungen des Backstop festzuschreiben?“
Britische Politik spricht mit sich selbst
Die verabschiedeten Anträge lösen überhaupt nichts, schimpft Zeit Online:
„Sie verdeutlichen lediglich den Irrgarten, in dem die britische Regierung ebenso wie die Abgeordneten sich seit zwei Jahren immer tiefer verlaufen. ... Sabine Weyand, Vizechefunterhändlerin der EU, hat sich unmissverständlich geäußert: 'Es wird keine weiteren Verhandlungen über das Ausstiegsabkommen geben. Wir werden den Vertrag nicht wieder aufmachen.' In London aber hat wieder keiner zugehört. ... So wiederholt sich, was sich seit zwei Jahren wiederholt. Die britische Politik spricht mit sich selbst. Britische Politiker quälen, planen, polemisieren, intrigieren sich zu immer neuen Kompromissen durch, die den alten zum Verwechseln gleichen. Dass ohne die Zustimmung der EU gar nichts funktioniert, fehlt in den Kalkulationen.“
Kein Sieg, sondern ein Bluff
An Mays schwacher Position ändert sich trotz der Unterhaus-Entscheidungen nichts, warnt The Guardian:
„Es ist ein Bluff, dass Großbritannien alle Karten in der Hand hält und - solange es nur genug Verachtung für Verträge und wirtschaftliche Logik an den Tag legt - Brüssel einschüchtern und zu Zugeständnissen bewegen kann, die mit konventioneller Diplomatie nicht zu erringen waren. Es gibt zwei mögliche Gründe für diese Strategie. Einer ist Dummheit: Man versteht nicht, worum es in den Verhandlungen bislang ging und dass Mays Abkommen die logische Konsequenz daraus war. Der Zweite ist zynischer Vandalismus: Man weiß, dass der Plan scheitern wird und hofft, dass Brüssels Unnachgiebigkeit die Schuld für einen chaotischen No-Deal-Brexit in die Schuhe geschoben werden kann.“
Kreativität der Europäer wieder einmal gefordert
Noch Chancen auf eine Lösung sieht hingegen Vincent Vicard vom französischen Wirtschaftsforschungsinstitut CEPII. Er schreibt in La Tribune:
„Die Ablehnung [von Mays ursprünglichem Brexit-Plan] durch das britische Parlament hat den Briten nicht zwangsläufig mehr Handlungsoptionen verschafft. Man darf allerdings nicht vergessen: Ein No-Deal-Brexit wäre für Großbritannien sehr kostspielig. Doch für die europäischen Länder wären die Folgen nicht minder gravierend: Ein großes Nachbarland, das nicht kooperativ ist, wäre auf Dauer desaströs. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten haben in der Schlussphase von wichtigen spannungsgeladenen Verhandlungen schon oft Kreativität bewiesen. Das ist auch jetzt wieder nötig.“
Stehen bald die Bänder still?
Mit Sorge blickt Večernji list auf Großbritanniens Wirtschaft:
„Die Zeichen stehen auf No-Deal-Brexit, ohne Regeln zum Handelsaustausch, dem Verhältnis zu den anderen EU-Staaten und so weiter. Die ersten Folgen würde der Handel zu spüren bekommen, dann kämen die Finanzmärkte, dann die Industrie. Es werden schon Lebensmittelengpässe in den Läden angekündigt, den Apotheken gehen die Arzneimittel aus, die Industrie (Airbus, Rolls-Royce, Honda, BMW) stoppt die Produktion. Honda kündigte an, nach dem 29. März die Produktion für mindestens sechs Tage anzuhalten, und BMW, mit seinem Werk nahe Oxford, wird eine Pause von einem Monat einlegen, um die Auswirkungen eines Nachschubmangels auf die Produktion abzuschätzen.“