Kommunalwahl: Warnschuss für Erdoğan?
Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bleibt nach der Kommunalwahl in der Türkei stärkste Kraft. Doch in den großen Städten musste sie Niederlagen einstecken: Die Opposition gewann in Ankara, Izmir, Antalya und knapp auch in Istanbul. Beobachter erklären, was den Erfolg der Opposition ausmachte.
Eine neue Generation übernimmt das Ruder
Junge und frische Gesichter haben der Opposition Erfolg gebracht, lobt Hürriyet Daily News:
„Während die CHP sich bemühte, neue, junge, dynamische Namen einzuführen, hat die AKP es vorgezogen, ihre Machthaber aufzubrauchen, die bereits massiv erschöpft sind. ... Aufgewachsen in einer Mittelschichtfamilie aus der Provinz Trabzon vom Schwarzen Meer, wo sowohl religiöse, als auch nationalistische Gefühle stark vertreten sind, sieht İmamoğlu nicht wie die anderen elitären sozialdemokratischen Politiker aus. Er scheint nun eine gute Gelegenheit zu haben, sein Image des Politikers einer neuen Generation in der gesamten Türkei zu stärken und seine Karriere weiter auszubauen, wenn er es schafft, ein erfolgreicher Bürgermeister Istanbuls zu sein.“
Bürger wollen Normalität
Mit seinen aggressiven Wahlkampfmethoden konnte Erdoğan nicht punkten, erklärt Club Z:
„Die türkischen Wähler haben deutlich gezeigt, dass sie einen normalen Staat haben wollen, der sich auf die demokratischen Grundprinzipien und die Rechtsstaatlichkeit zurückbesinnt und keinen Staat, in dem jeder Oppositionelle als Terrorist beschimpft wird. Die Wähler haben Erdoğan zu verstehen gegeben, dass sie seine Politik der Spaltung, des gegeneinander Aufhetzens und der Dämonisierung der politischen Gegner nicht befürworten. Ihre Botschaft war, dass in dem Land Kommunalwahlen stattgefunden haben und nicht ein Krieg für das Überleben der Türkei oder ein 'Befreiungskrieg'.“
Kein Zeichen der Hoffnung
Es war nicht Erdoğans autoritäres Gebaren, für das die Wähler die AKP abgestraft haben, meint der freie Journalist Cem Sey in Cicero:
„Die Wähler in den Städten gaben diesmal ihre Stimme der Opposition. Nicht weil sie diese besser finden. Sondern, weil sie die Geduld verlieren. Die Verteuerungsrate bei den Lebensmitteln lag im letzten Jahr bei 50 Prozent. Mietkosten explodieren. Firmen gehen pleite. Die Arbeitslosigkeit nimmt rasant zu. Was das Ausland mit Schrecken kritisiert, nämlich die Abschaffung des Rechtsstaates, die Gleichschaltung der Medien oder die ultranationalistischen Ausbrüche Erdoğans, sind einem Großteil der Bevölkerung hingegen eher egal. So gesehen, machen die Wahlsiege der CHP-Kommunalpolitiker für die Zukunft des Landes nicht viel Hoffnung.“
Mögliches Ende der AKP-Dominanz
Dass die Kommunalwahl den Anfang vom Ende der Ära Erdoğan einläuten könnte, glaubt der Kurier:
„Bereits beim Referendum 2017 zur Einführung des Präsidialsystems, das dem Staatsoberhaupt weitreichende Vollmachten einräumt, konnte Erdoğan in Ankara, Istanbul oder Izmir keine Mehrheit verbuchen. Kommunalwahlen in der Türkei waren immer schon ein guter Gradmesser für künftige politische Entwicklungen. Insofern könnte der Urnengang vom Sonntag das Ende der AKP-Dominanz einläuten. … In der Tat darf die Opposition Morgenluft schnuppern, sich aber auch nicht zu früh freuen. Denn der Kämpfer Erdoğan wird nie aufgeben. Und die Zeit spielt für ihn: In den kommenden vier Jahren stehen keine Wahlen an. Springt die Wirtschaft in der Zwischenzeit an, könnte er wieder obenauf sein.“
Die Realität rächt sich
Populismus hat kurze Beine, ergänzt Wirtschaftsexperte Stefano Lepri in La Stampa:
„Sieht man einmal von einer politischen Wertung seiner Person ab, hat Recep Tayyip Erdoğan jahrelang erfolgreich die türkische Wirtschaft gesteuert. Dann begann er, eine Reihe von Fehlern zu machen. Nachdem die Preise in den letzten zwölf Monaten um 20 Prozent gestiegen sind und mehr als eine Million Arbeitsplätze verloren gingen, ist es verständlich, dass viele Wähler unzufrieden sind. Nicht alle populistischen Rezepte sind gleich. Die unterschiedlichen politischen Kräfte, die wir unter diesem Namen zusammenfassen, sind aus ganz verschiedenen Gründen an die Macht gekommen. Es gibt jedoch einen gemeinsamen Nenner: An einem gewissen Punkt kollidiert die Propaganda, das attraktive Trugbild, mit der Realität. Und die Realität rächt sich.“
Erdoğanisierung nicht gefährdet
Politikwissenschaftler Alexandru Damian hingegen glaubt auf Contributors, dass der Präsident das Land weiter fest im Griff hat:
„Das Wahlergebnis ist ein Schlag für die AKP von Erdoğan, doch ist das nur die halbe Wahrheit. Die andere Wahrheit ist, dass sich die Allianz aus der AKP und den Nationalisten der MHP landesweit über 50 Prozent aller Stimmen sichern konnte (44 Prozent AKP, 7 Prozent MHP). Das ist ein ähnliches Ergebnis wie bei der Parlamentswahl 2018. … Erdoğan hat weiterhin genügend Kontrollhebel. Er kann in den Hintergrund treten (sein Diskurs nach der Wahl war für einen Autokraten, der im Wahlkampf überall Feinde sieht, eher versöhnlich) und ungehindert die Erdoğanisierungspolitik der Türkei fortsetzen.“
Wahlmarathon war erfolgreiches Rezept
Ein erfolgreiches Kalkül Erdoğans erkennt Ethnos:
„Mit der Kommunalwahl endet ein Zyklus von fast fünf Jahren ununterbrochener Wahlkonfrontationen: Die Präsidentschaftswahl im Jahr 2014, zwei Parlamentswahlen im Jahr 2015, ein Referendum über die Verfassungsreform im Jahr 2017 und die Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Jahr 2018. Der rote Faden all dieser Urnengänge war ihre extreme Dramatisierung. Erdoğan inszenierte sie als kritischen Test für das Überleben des Landes - und das Rezept war erfolgreich.“
Das Volk will den Konsens
Das türkische Volk hat für einen Ton der Mäßigung und eine Politik des Ausgleichs zwischen Regierung und Opposition gestimmt, analysiert Karar:
„In dieser Konstellation, mit einer Partei im Machtzentrum und neuen Regierenden in einigen Zentren auf lokaler Ebene, wird das Präsidialsystem nun seinen Lackmustest erleben. An diesem Punkt werden Konsens und eine gemeinsame Strategie unausweichlich. Angefangen bei Erdoğan müssen fortan alle politischen Führer dafür sorgen, dass das System trotz aller Differenzen funktioniert. Der Wähler hat mit einer dezenten Weichenstellung auf die kontrollierende Macht des Systems hingewiesen.“