Wie verändern Populisten die politische Kultur?
Der von vielen befürchtete Siegeszug der Rechtspopulisten bei der Europawahl ist ausgeblieben. Zwar konnten sie Zugewinne erlangen, doch blieben sie weit davon entfernt, stärkste Fraktion im Europaparlament zu werden. Kommentatoren beobachten dennoch einen Einfluss auf die politische Kultur - jenseits konkreter Wahlergebnisse.
Nicht immer gleich hyperventilieren
Mehr Gelassenheit bei der Beobachtung des politischen Geschehens fordert der Kurier:
„Europa [hat] grad die monatelang hochgeschriebene Gefahr der rechtspopulistischen Übernahme abgewendet. Und dann stürzt ein Land nach dem anderen in die Krise: In Österreich wird Ende September gewählt. In Deutschland wohl auch bald, die Große Koalition ist am Ende. Die Briten haben (k)eine Premierministerin und jede Menge politisches Chaos. Die Griechen wählen, die Tschechen protestieren ihren Premier weg, und Italiens Regierungschef ist eine Marionette seines Innenministers … Vielleicht haben die vielen vermeintlichen Krisenfälle zumindest eine gemeinsame Lehre: dass politische Entwicklungen wie neue Gesichter, alte Konflikte, zerbrechende Koalitionen und Orientierungssuchen, Neuwahlen und Aufbrüche viel gelassener zu betrachten wären, als das in unserer hyperventilierenden Zeit der Fall ist.“
Die Mitte wird zum Steigbügelhalter
Der Opportunismus der Mitte verhilft Populisten zu Einfluss, analysiert der Politologe Jan-Werner Müller in der Neuen Zürcher Zeitung:
„Das Gefährliche für die Demokratie ist nicht, dass überall Mehrheiten plötzlich für Rechtspopulisten optieren. Es ist die Tatsache, dass vermeintlich gemäßigte Mitte-rechts-Akteure keine Grenzen mehr kennen und mit den Populisten kollaborieren oder auch einfach deren Inhalte kopieren. … Aus alldem folgt nicht, dass man Rechtspopulisten völlig ignorieren oder aus der politischen Auseinandersetzung komplett heraushalten sollte. Aber es gilt zu erkennen, dass die Populisten eher für eine laute Minderheit denn für die schweigende Mehrheit sprechen. Erst der Opportunismus des Mainstreams von Mitte-rechts verhilft ihnen zu wahrem Einfluss, ob nun durch offizielle Koalitionen oder stillschweigendes Kopieren, was beides die politische Kultur dauerhaft verändert.“
Demokraten brauchen Selbstzweifel
Zwischen den Anhängern des niederländischen Rechtspopulisten Baudet und denen der linken US-Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez sieht Tom-Jan Meeus, Kolumnist bei NRC Handelsblad, kaum Unterschiede:
„Die Polarisierung führte in den USA zu einem Wettlauf der Radikalität. ... Wer auf den totalen Sieg zusteuert, kann niemanden im anderen Lager überzeugen - und endet in der totalen Niederlage. ... Dabei wird ein wahrer Demokrat Menschen mit einer anderen Meinung nicht ablehnen, sondern überzeugen wollen. Dies erfordert nur, dass man die eigenen Ansichten auch in Zweifel ziehen kann - weil man Selbstzweifel braucht, um andere zu begreifen und die eigenen persönlichen Meinungen zu testen. ... Ohne Selbstzweifel geht nicht nur das Maß verloren - sondern vor allem die Fähigkeit, den Mitmenschen zu respektieren.“