Was hält Russland dem Liberalismus entgegen?
Wladimir Putin hat in einem Interview mit der Tageszeitung Financial Times den Liberalismus vor allem mit Blick auf den Umgang mit Migranten kritisiert. Die politische Ideologie sei obsolet, die Mehrheit der Bevölkerung wolle sie nicht. Doch ob Russland eine attraktive Alternative darstellt, bezweifeln Kommentatoren aus Ost und West.
Rückwärts gerichteter Vorkämpfer
Putin denkt und handelt gemäß seiner offen gelebten antiliberalen Haltung, meint Publizist Michail Posharskiy bei Newsru:
„Wenn Putin sagt, dass die Elite der westlichen Länder sich dem Volk entfremdet hat, spricht er von der repräsentativen Demokratie, die da irgendetwas im Parlament diskutiert, statt 'reale Dinge' zu tun. Für ihn zeigt sich die die wahre Verbundenheit zum Volk durch den mystischen 'Direkten Draht' und die 'Umfragen von VZIOM'. Putin ist sichtbar im Leben des Volks zugegen: Eine Oma kann ihn in der Liveübertragung anrufen, wonach ihr wie von Zauberhand im Treppenhaus die Glühbirne eingeschraubt wird. ... Nein, Putin lügt nicht - er ist ein durchaus aufrichtiger Antiliberaler und Vorkämpfer für die 'alte Ordnung'. Nur sieht diese 'alte Ordnung' aus wie das heutige Russland. Und sah schon immer so aus.“
Russland bleibt selbst hinter China zurück
Putins Russland ist keine Herausforderung für den westlichen Liberalismus, China aber schon, analysiert Le Monde:
„Putins Modell definiert sich über die Abgrenzung, als Negation der liberalen Demokratie: Es ist reaktionär. ... Und er erklärt nicht, warum die Bürger sich grundsätzlich für etwas anderes entscheiden, wenn sie 'mit den Füßen wählen'. Schließlich gibt es viel mehr Migration aus Russland in den Westen als andersherum. Wenn es ein Land gibt, das sich momentan rühmen könnte, ein Alternativmodell anzubieten, ist dies nicht Russland, sondern China. Denn das beweist gerade, dass man mit technologischer Innovation wettbewerbsfähig sein kann, ohne den freien Austausch von Ideen zu erlauben. Das ist eine wahre Herausforderung für den Liberalismus. Die Nostalgie der Traditionen vergangener Zeiten ist es nicht.“
Das perfekte System gibt es nicht
Es gibt keine funktionierende Alternative zur liberalen Demokratie, ist Gazeta Wyborcza überzeugt:
„Manchmal stehen wir vor der Wahl, welchen Werten wir uns widmen sollen: der Meinungsfreiheit oder dem Recht des Einzelnen auf den Schutz seiner Privatsphäre; der Freiheit des Unternehmers, der Dienstleistungen anbieten möchte, oder dem Schutz benachteiligter Gruppen vor Diskriminierung. Diese Entscheidungen lösen immer Diskussionen aus, sie untergraben jedoch nicht die Grundsätze der liberalen Demokratie. Die Feinde der liberalen Demokratie haben hingegen kein kohärentes Programm oder Ideen, die reale Probleme lösen können. Politik, Wirtschaft und das Leben sind nicht perfekt. Wir lösen ein Problem, und ein anderes entsteht. ... Doch alle Feinde des Liberalismus sollten in Putins Russland reisen, um zu sehen, was 'illiberale Demokratie' wirklich bedeutet.“
Gegenbeweise gibt es genug
Putin mag den Liberalismus verhöhnen und für tot erklären, doch es gibt Hoffnung, findet Irish Times:
„Aktuelle Ereignisse in aller Welt beweisen, dass die Demokratie immer noch viele Verfechter hat - von den triumphierenden Oppositionswählern Istanbuls über die große Menschenmenge bei Demonstrationen gegen die Regierung in Hongkong und Prag bis hin zu Tausenden Russen, die gegen die Festnahme des Journalisten Iwan Golunow wegen eines vermeintlichen Drogendeliktes protestierten. Doch wenn liberale Werte nicht verteidigt werden, dann verkümmern die Regeln auf denen diese aufbauen. Dann würde sich die von Putin gewünschte Ordnung durchsetzen: Ein System, in dem das Recht immer auf der Seite des Stärkeren ist.“
Russland ist kein Vorbild
Die Tageszeitung Financial Times distanziert sich deutlich von der Position des russischen Präsidenten:
„Putins Euphorie ist fehl am Platz. Nicht der gesamte Liberalismus ist in Gefahr. Die Überlegenheit von Privatunternehmen und freien Märkten - zumindest innerhalb einzelner Nationen - bei der Schaffung von Wohlstand, wird nicht mehr ernsthaft infrage gestellt. Gefährdet sind jedoch offene Grenzen und Werte wie soziale Toleranz, Individualrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. ... Amerika mag nicht mehr so stark wie einst ein Sehnsuchtsort sein, aber die Armen und Unterdrückten der Welt machen sich überwiegend in die USA und nach Westeuropa auf - nicht nur, weil diese wohlhabend sind, sondern weil diese auch als Zufluchtsorte der Freiheit gelten. Russland ist weder für die Armen, die Reichen noch für ausländische Investoren ein Magnet.“
Beschränkte Perspektive
Warum Putin den Liberalismus ablehnt, erklärt der russische Oppositionspolitiker Leonid Gozman in Nowaja Gaseta:
„Seine Vorstellungen vom Liberalismus sind sehr fragmentarisch. Sie stammen aus dem Boulevard, aus Werken marginaler Autoren oder Gesprächen mit deren Lesern. Man kann doch zum Beispiel nicht alle Weltprobleme auf die Migration und die Anpassung der Einwanderer oder auf nicht-traditionelle sexuelle Orientierungen herunterbrechen. ... Doch womit hat der Liberalismus nun die Wut des Präsidenten hervorgerufen? Etwa damit, dass in liberalen Demokratien die Gesellschaft die Staatsmacht kontrolliert, dass die führenden Politiker dort ihre Handlungen mit den Gesetzen in Übereinstimmung bringen und sich dem für unsere Anführer so seltsamen Prinzip der Machtteilung unterordnen müssen?“