Brexit-Hardliner übernehmen in London
Großbritanniens neuer Premier Johnson will das EU-Austrittsabkommen neu verhandeln. Nach Amtsantritt hatte er zudem die britische Regierung fast komplett ausgetauscht und dabei Brexit-Hardliner eingesetzt. Großbritannien werde die EU am 31. Oktober "ohne Wenn und Aber" verlassen, so Johnson. Was ist von Johnsons Kurs zu erwarten?
Das gespaltene Königreich
Johnson reist am heutigen Montag nach Schottland, um für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs zu werben. Diese Mission dürfte kaum erfolgreich sein, unkt La Repubblica:
„Zusätzlich zu seiner Rolle als Premier hat Johnson die Rolle des 'Ministers der Union' übernommen, um sein Engagement für den Zusammenhalt der vier Regionen seines Landes zu unterstreichen. Das Paradox ist, dass er riskiert, in die Geschichte als genau das Gegenteil einzugehen: als der Urheber der britischen Uneinigkeit. ... Denn es besteht kein Zweifel, dass die traumatischste Folge des Brexit die Umwandlung des Vereinigten Königreichs in das gespaltene Königreich wäre, von Great Britain in Little England. ... Blind vor populistischer Wut erklärt sich die Mehrheit der Konservativen in den Umfragen bereit, Schottland und Nordirland zu verlieren, um die verhasste EU zu verlassen.“
Briten müssen über ihr Schicksal entscheiden
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung glaubt, dass Johnson mit seinem scharfen Brexit-Kurs eine vorgezogene Neuwahl bewusst in Kauf nimmt:
„Johnson spekuliert offenbar darauf, dass er als kompromissloser Brexiteer dann bessere Chancen hätte. Kann sein, muss aber nicht sein. Es ist ein Spiel, wie alles im politischen Leben dieses Mannes. Die Europäische Union muss damit umgehen. ... Warum sollte sie Zugeständnisse gegen ihre eigenen Interessen machen, wenn gar nicht absehbar ist, wie lange die Regierung hält? ... [E]s ist jetzt an den Briten, über ihr Schicksal zu entscheiden. Das Unterhaus kann den Premierminister jederzeit stoppen. Dann entscheiden 46 Millionen Bürger statt 90.000 konservative Parteimitglieder. Europa tut gut daran, sich da nicht einzumischen.“
Ein glorreicher Auftakt
Der erste Auftritt Boris Johnsons als Premier macht The Sun Hoffnung auf eine neue Ära:
„Seine vielen nervigen Kritiker mögen mit den Augen rollen wenn er davon spricht, Großbritannien bis 2050 zum 'großartigsten Ort der Erde' zu machen. Doch wie viel kraftvoller ist so etwas als Mays vorsichtiger Defätismus. Und wie viel verführerischer als Corbyns absurde Verzerrung unseres großartigen Landes zu einem Alptraum à la Dickens, in dem Tory-Snobs die Armen zu Lebensmitteltafeln treiben und nebenbei 'das [staatliche Gesundheitssystem] NHS an Trump verkaufen'. Immer weniger Menschen werden das glauben. ... Ja, wir sind noch in den Flitterwochen und ein Berg von Problemen türmt sich vor uns auf. Aber Boris hat einen glorreichen Start hingelegt.“
Hier ist nicht der Wilde Westen
Johnson wird schnell merken, wie viel Gegenwind ihm entgegenbläst, glaubt El Mundo:
„Johnson hat sich mit harten Euroskeptikern als Ministern umgeben, damit seine Kampfansage an Brüssel keinerlei Schwachstellen bekommt. Aber auch wenn er sich noch so hart präsentiert - bei den Tory-Abgeordneten im Parlament, die wieder und wieder gegen einen No-Deal-Brexit gestimmt haben, dürfte er auf Widerstand stoßen. Dazu kommen 27 EU-Mitglieder, die ihm als vereinter Block gegenüberstehen. Man hatte May gesagt, es gebe nichts mehr zu verhandeln. Da kann man jetzt nicht auf die Erpressungen eines Boris Johnson eingehen, der so tut, als gälten die Gesetze des Wilden Westens.“
In der Sackgasse gelandet
Mit dem Austrittsreferendum 2016 entstand in der britischen Gesellschaft ein tiefer Bruch, kommentiert Traian Ungureanu von der nationalliberalen Partei Rumäniens bei Radio Europa Liberă:
„Das demokratisch zustande gekommene Ergebnis wurde umgehend von denen zurückgewiesen, die eigentlich - nach großer demokratischer Tradition im Königreich - den Wählerwillen hätten respektieren und umsetzen müssen. Die Medien, die Universitäts- und Kunstwelt, die Verwaltungselite und das Parlament wollten den Ausgang des Referendums mehrheitlich nicht akzeptieren. Das liegt daran, dass ihre Interessen am rechtlichen, ideologischen und finanziellen System der EU hängen und nicht an der Nation, der sie dienen sollen. ... Drei Jahre nach dem Schock des Referendums ist der Wählerwille noch immer nicht umgesetzt. Und Boris Johnson ist das Ergebnis dieser Sackgasse.“
Boris meint es ernst
Große Hoffnungen in Londons künftiges Kabinett setzt The Daily Telegraph:
„Das neue Team des Premiers gibt dem Vereinigten Königreich die Möglichkeit, auch mit einem Brexit ohne Abkommen zu florieren. So wird es wesentlich glaubhafter, dass das Land diesen Weg einschlagen kann - was Großbritannien wiederum weitaus größeres Gewicht in den Verhandlungen mit der EU verleihen wird. Seit heute wird das Land endlich von Leuten regiert, die an das Projekt glauben, das es umzusetzen gilt. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil sie der Überzeugung sind, dass es der richtige Weg für das Land ist. Das ist wichtig. Boris hat in den ersten Stunden seiner Amtszeit dem Land und der Welt gezeigt, dass er es ernst meint.“
Brexit hat oberste Priorität
Großbritanniens neuer Premier wird seine ganze Aufmerksamkeit dem Brexit widmen, glaubt Večernji list:
„Alle Schlüsselpositionen wurden an seine treuen 'harten Brexiteers' vergeben. Es ist zugleich ein Statement, dass in den nächsten 98 Tagen bis zum Austritt aus der EU dem Brexit oberste Priorität zukommt. Obwohl Johnson betont, die Vereinbarung von Theresa May mit der EU sei tot, scheint er zu begreifen, dass er doch etwas mit Brüssel absprechen muss. So redete er gestern von 'inoffiziellen Vereinbarungen über manche Fragen'. Die EU antwortete prompt. Man kommunizierte offen, dass Johnsons Bemerkung nichts mit der Realität zu tun habe und Geschichten über solche Gespräche 'Müll' seien.“
Schluss mit lustig
Dass die EU Johnson gegenüber auf keinen Fall nachgeben darf, fordert Le Quotidien:
„Es ist im Interesse sowohl der künftigen EU-Kommission unter Leitung von Ursula von der Leyen als auch der 27 Staats- und Regierungschefs, nicht einzulenken. Selbst ein weiterer Aufschub des Austrittsdatums wäre ein Zugeständnis zu viel an Boris Johnson, der die Konsequenzen eines harten Brexits noch nie wirklich ernst genommen zu haben scheint. Der Mann, der schon immer davon geträumt hat, britischer Premier zu werden, muss nun seine neue Rolle wahrnehmen und im Interesse seines Volks handeln. Bleibt Boris Johnson starrsinnig, könnte sein Mandat nur kurz währen. Sowohl Großbritannien als auch die EU benötigen Stabilität. Daher ist es Zeit, lautstark zu verkünden, dass nun Schluss ist mit lustig.“
EU muss mit dem Schlimmsten rechnen
Auf eine neue unberechenbare Phase im Brexit-Spektakel stellt sich De Volkskrant ein:
„Angesichts der totalen Sackgasse, in die sich das Land seit dem fatalen Brexit-Referendum 2016 manövriert hat, erscheinen Johnsons Versprechen vor allem als Wunschdenken. Johnson muss zwischen denselben zwei Extremen lavieren wie May, doch mit noch weniger Spielraum im Parlament. ... Johnson hat keine Wunderwaffe in der Hinterhand, um seinen Traum zu realisieren und am 31. Oktober in die Geschichte einzugehen als der Premier, der Großbritannien ordentlich aus der EU lotste. Aber mit seinem Charakter kann es ihm vielleicht gelingen, die Welt glauben zu lassen, dass er es wirklich versucht hat. ... Die EU tut gut daran, sich auf das Schlimmste vorzubereiten.“
Johnson braucht jetzt Donald Trump
Nun gilt es für Johnson auszuloten, inwieweit ihn Trump zum Beispiel in Sachen Freihandelsabkommen tatsächlich unterstützen kann, analysiert Cristian Unteanu auf seinem Blog bei Adevărul:
„Die Sache ist essentiell und dringlich. Denn es deutet sich schon eine Explosion an, vor allem, wenn es zu einem harten Brexit kommt. Dann werden Schottland und Nordirland in der EU bleiben wollen. Das bedeutet Unabhängigkeitsreferenden in beiden Regionen. ... Um diese dramatische Perspektive zu vermeiden, die einem Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreiches gleichkommt, muss Johnson sehr schnell Garantien liefern, die ihm Donald Trump theoretisch auch versprochen hat. Doch angesichts weltweiter wirtschaftlicher Anspannungen und Handelskriegen mit der EU und mit China scheint es schwierig, dass Trump diese wird bieten können.“